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Die Wirklichkeit ist angekommen …

Ein Dossier aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine

Maike Lehmann, Annette Schuhmann (Hg.)

Potsdam
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2724

ABSTRACT



INHALT

ABSTRACT

»Die Wirklichkeit ist angekommen«, sagte Karl Schlögel am 27. Februar 2022 in der sonntäglichen Gesprächsrunde bei Anne Will. Die Zeit sei vorbei, dass man uns Märchen erzählt. Gemeint war damit der unglaubliche »Russland- und Putin-Kitsch«, den Politiker:innen wie Sahra Wagenknecht, Gerhard Schröder oder Gregor Gysi bis heute verbreiten. Noch fünf Tage vor dem Beginn der Großinvasion am 24. Februar 2022 erklärte Schlögel, dieser exzellente und stets auf Verständigung bedachte Osteuropa- Historiker, auf den Angriffskrieg nicht gefasst gewesen zu sein.

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Am Morgen des 24. Februar, kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte, lag eine Mail der Pressesprecherin meiner Universität im Postfach: Sie rechne angesichts der Lage mit vermehrten Anfragen der Presse. Ob ich, immerhin doch Osteuropahistorikerin, als Expertin für den aktuellen Konflikt zur Verfügung stünde?

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»Was will Putin?«, wurde in den letzten Wochen gerätselt. Eher sollte gefragt werden, was will der Westen tun, um die Pläne des russischen Präsidenten zu verhindern. Die hektischen diplomatischen Bemühungen seit Dezember 2021 konnten kaum Ergebnisse bringen, weil die absolute Setzung des russischen Standpunktes keinen Raum für Verhandlungen bot. Insofern sieht im Nachhinein alles, was passiert ist, nach einem minutiös geplanten Szenario aus, das punktgenau mit der Rückkehr der russischen Olympioniken und der anschließenden Rede Putins an die Nation am 21. Februar 2022 seinen ersten Abschluss fand.

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Among Soviet historians it has become a kind of truism that the Soviet Union was in a permanent state of contradictions and that Soviet society adopted to these contradictions with a variety of survival mechanisms that ranged from ignoring contradictions to circumventing their challenges. One of the most significant contradictions was the tension between the Soviet Union’s self-declared anti-imperialism and anti-colonialism and the fact that it asserted its own imperial and colonial structures, especially in the post-WW II period. I shall try to address a different question here: What does and did empire mean to Russians, especially vis-à-vis Ukraine?

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»Zeitenwende«: Gleich mehrfach gebrauchte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Krieg in der Ukraine am 27. Februar im Deutschen Bundestag dieses Wort, um zu beschwören, dass seit dem russischen Überfall auf die Ukraine plötzlich alles ganz anders sei. Doch provozieren die großen Worte von der Zeitenwende die Skepsis des Zeithistorikers. Mit einigem zeitlichen Abstand hat sich schon manche eilig ausgerufene historische Zäsur als weniger einschneidend erwiesen, als sie im Eifer des Moments noch scheinen mochte.

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Die Bevölkerung Russlands steht nicht geschlossen hinter dem Krieg gegen die Ukraine. Trotz aller Bemühungen der staatlichen Propaganda, den Krieg in der russischen Öffentlichkeit als »Spezialoperation« zu inszenieren, regt sich vielerorts Widerstand. Jede einzelne Unmutsäußerung erfordert großen persönlichen Mut und Zivilcourage im Angesicht des staatlichen Repressionsapparats. Gegenwärtig kursieren mehrere »Offene Briefe«, die binnen kürzester Zeit von hunderten oder gar tausenden Personen unterzeichnet wurden. Drei dieser Dokumente werden in Auszügen übersetzt und so für ein deutschsprachiges Publikum dokumentiert. 

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Die Welt befindet sich noch immer im Schock, weil niemand glaubte, Putin würde tatsächlich die Ukraine überfallen. Der Fehler lag darin, nicht in Putins Propaganda-Kategorien zu denken, mit denen der Krieg zur »Spezialoperation« und der Angriff zur »Befreiung« wurde. Das noch größere Versäumnis lag darin, dass wir Russlandkenner:innen nicht mit Militärstrateg:innen sprachen, die hätten erläutern können, dass Putin nach dem Lehrbuch des Krieges im 21. Jahrhundert vorgehen würde: erst mit Raketen und schwerer Artillerie alles ausschalten, was die dann nachrückenden Soldaten gefährden könnte.

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Viele wundern sich dieser Tage über den kometenhaften Aufstieg des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einem globalen Medienstar. Selenskyj lässt Putin alt aussehen. Doch hinter seinem internetaffinen, von Videoclips und Selfie-Ästhetik inspirierten Kommunikationsstil stehen mehr als nur ein paar gute PR-Strategen. Dass die ukrainische Führung nun auch in ihrer Kriegspropaganda erfolgreich auf Interaktion und Nähe setzt, ist nicht zuletzt ein Gradmesser für den Stand der öffentlichen Kommunikation in der sich demokratisierenden ukrainischen Gesellschaft.

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Am 15. Februar war ich zum letzten Mal im Archiv des ukrainischen Geheimdienstes SBU. Als ich mich von der Lesesaalaufsicht verabschiedete, blickte ein älterer Nutzer auf. Wo ich denn herkomme? »Aus Berlin«, antwortete ich. »Ach so«, sagte er und schaute wieder in seine Akten, »aus Deutschland. Na, großartig. Ihr Deutschen schickt uns 5000 Helme, und die Russen lassen demnächst Raketen auf uns niederregnen.« Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich für mein Land geschämt und für meine Regierung, die der Ukraine die angeforderte Unterstützung mit Hinweis auf unsere Geschichte versagte – auf eben jene Geschichte, die ich gerade in Kiew erforschte.

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Als Historikerin, die seit vielen Jahren über die Geschichte des deutschen Vernichtungskriegs in der Ukraine forscht, bin ich erschüttert mitzuerleben, wie Putins menschenverachtender Krieg mit seiner ganzen Brutalität in den Alltag der Menschen in der Ukraine eingebrochen ist. Jetzt ist die Rede von einer Zeitenwende. Im Rückblick wächst die Einsicht, dass wir in Deutschland und Europa durch jahrelange Fehleinschätzungen und zögerliches Handeln eine Mitschuld daran tragen, dass Putin die »rote Linie« immer weiter nach vorne geschoben hat.