23. März 2022
Nach zwei Jahren medizinischer Debatten über den Beginn einer »Ära der Pandemien« überbieten sich seit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine die Prognosen über den Anbruch einer neuen (oder alten?) Zeit der Geopolitik. Auf einmal prägen nicht mehr die Sorgen um die Übertragung von immer tödlicheren Viren aus der Tierwelt auf die Menschheit unseren Erwartungshorizont, sondern jene des »Kriegs in Europa« bzw. eines »Dritten Weltkriegs«, in dem die Kategorien des Westens und Ostens, der Demokratie und Diktatur sich (wieder) feindselig gegenüberstehen.
Die Bedrohungskulisse der pandemischen Ära ließe sich aufgrund ihrer Verbindung mit der Ausbeutung der Natur durch den Menschen vollkommen in das neue Zeitbewusstsein des Anthropozäns einordnen. Dieses Zeitbewusstsein ist im neuen Jahrtausend aus dem gemeinsamen Nachdenken von Natur- und Humanwissenschaften über den Klimawandel entstanden. Darin wird die moderne Trennung der historischen Zeit der Menschen von der geologischen Zeit der Erde radikal hinterfragt zugunsten eines hybriden Zeitverständnisses, wonach die Menschheit zum Akteur der Geschichte unseres Planeten und die Umwelt zum Akteur der menschlichen Geschichte werden (Bruno Latour, Dipesh Chakrabarty).
Die Bedrohungskulisse des Krieges suggeriert hingegen die Reaktivierung einer Zukunftsperspektive, die sich als genuin modern bezeichnen lässt: erstens und ganz banal weil sich darin die moderne Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts zu wiederholen scheint; zweitens aufgrund der wiedergewonnenen Bedeutung des historischen Ost-West-Konfliktes, die die bereits länger diskreditierte These eines postmodernen Endes der Geschichte nach 1989 endgültig archiviert; und schließlich weil der Krieg einen Erwartungshorizont eröffnet, dessen Gestaltung allein in den Händen der Menschen – nicht Gottes, der Viren oder des Klimas – liegt und somit eine völlig menschliche »Machbarkeit« der eigenen Geschichte voraussetzt (Reinhart Koselleck).
Erleben wir aber wirklich eine Rückkehr der Moderne oder wie können wir die Zeiterfahrung sonst begreifen, die durch den Diskurs über den Krieg gerade ausgelöst wird? Ich möchte hierzu einige Überlegungen zusammentragen. Diese Reflexionen haben mich in den letzten Tagen und Wochen begleitet, um die Fülle der historischen Deutungsangebote für diesen Krieg auf der Metaebene der postmodernen Zeitwahrnehmung einzuordnen und somit die gegenwärtigen Gräuel dieses Krieges für die ukrainische Bevölkerung nicht einfach durch die Furcht vor der Auferstehung einer dystopischen Moderne zu ersetzen.
Die Allgegenwart der Vergangenheit
Das Gefühl der Wiederkehr der Moderne lässt sich auf eine unglaubliche Renaissance der Geschichte zurückführen, die für die geübten Augen der Historiker:innen nicht unbeachtet bleiben kann. Am deutlichsten fällt eine derartige Renaissance selbstverständlich bei Putins Besessenheit von Geschichte auf – sowohl in seiner »Geschichtsunterrichtstunde« zur Begründung des russischen Angriffs als auch beispielsweise in der Wahl des Begriffs »Entnazifizierung« zur Definition seiner Kriegsziele. Wie verzerrt das Geschichtsverständnis des Kremls ist, haben viele Expert:innen der historischen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine in den letzten Tagen unterstrichen. Aber Geschichtsbilder und historische Referenzen zirkulieren auch massenhaft in den »westlichen« Öffentlichkeiten jenseits der konkreten Auseinandersetzung mit Putins Reden und zeigen die Allgegenwart der Vergangenheit in unserer Wahrnehmung des aktuellen Krieges.
Mit der Diagnose einer Allgegenwart der Vergangenheit möchte ich auf den Wildwuchs von historischen Narrativen über das 19. und 20. Jahrhundert hinweisen, die sich uns gerade als Deutungsfolien oder besser als Blaupausen des aktuellen Kriegsgeschehens aufdrängen und auf die der »westliche« und konkreter der deutsche mediale, politische und wissenschaftliche Diskurs über den Krieg immer wieder Bezug nimmt. Der Begriff »Narrativ« soll hier nicht missverstanden werden: Darin schwingt kein Vorwurf mit, derartige Geschichtsdeutungen seien fiktiv oder propagandistisch manipuliert. Vielmehr bringt er die grundlegende Funktion der modernen Geschichtswissenschaft zum Ausdruck, (kausalen) Sinn aus bestimmten Verkettungen von Ereignissen oder Phänomenen und somit eine (lineare) Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu produzieren.
Genau dieser Aspekt ist für meine Argumentation wichtig: Gerade sind Geschichtsnarrative nicht nur in der Dimension von unserem kriegsgeprägten Heute allgegenwärtig. Sie knüpfen das Heute an einen bestimmten Erwartungshorizont für das Morgen, das auf einmal von einer Reihe von »vergangenen Zukünften«[1] des 20. Jahrhunderts besetzt ist.
Die vergangenen Zukünfte unserer Gegenwart
Eine erste vergangene Zukunft entsteht aus der Einordnung von Putins Angriff in eine Geschichte des russischen imperialen Expansionismus: Dieser sei seit dem 16. Jahrhundert von der Idee der Wiedervereinigung der historischen Territorien der Rus getrieben, um dann ab dem 18./19. Jahrhundert auch koloniale Ambitionen in Asien zu hegen sowie den Status einer europäischen Großmacht zu sichern. Im 20. Jahrhundert können zu diesem Expansionismus die Pläne zur Aufteilung Europas – mit dem Hitler-Stalin Pakt und später mit Jalta – gerechnet werden. Ein Narrativ der Geschichte Russlands von der Frühmoderne bis in die Sowjetunion entlang ihrer imperialen Visionen wurde im Rahmen der vergleichenden Imperienforschung in den letzten Jahren reichlich erörtert und kritisch reflektiert.[2]
Jetzt instrumentalisiert Putin diese Geschichte im Sinne des »imperialen Phantomschmerz[es] der politischen Elite Russlands«,[3] indem er die Ukraine als historischen Bestandteil des russischen Imperiums beansprucht, um die Invasion zu legitimieren. Ob nun in der Rhetorik Putins oder der Reaktion darauf von westlicher Seite – der Krieg erscheint somit als etwas, das auf eine genuin russische, jahrhundertelange Entwicklungsdynamik zurückzuführen ist. Solche Rückgriffe auf historisierende Narrative implizieren, dass der Krieg gegen die Ukraine über heutige geopolitische Erwägungen und Interessen hinausgeht. So eine historische Perspektive malt auch auf dem Horizont Osteuropas einen ewigen Konflikt, der nur durch eine Einhegung des russischen imperialen Drangs (wie im Kalten Krieg) auf Kosten bestimmter mittel-osteuropäischer Territorien oder eben mit einer radikalen Schwächung oder Veränderung Russlands überwunden werden kann.
Mögliche Varianten dieser Zukunft lassen sich in den Vergleichen des aktuellen russischen Angriffs auf die Ukraine mit dem Krimkrieg sowie mit dem russisch-japanischen Krieg 1904/05 finden. Beide Narrative, das erste sogar vom britischen Verteidigungsminister evoziert, wirken dem Schrecken des ewigen Konfliktpotenzials in Osteuropa oder eines europäischen Krieges entgegen, indem sie einen Erwartungshorizont des Scheiterns der gegenwärtigen russischen Angriffspolitik aufgrund einer grundlegenden (technologischen) Überlegenheit des Westens beschwören. Ein weiteres mächtiges historisches Brennglas, das gerade unseren Blick auf den Krieg prägt, verlegt den Fokus von Russland weg auf den Westen bzw. das Westeuropa der Zwischenkriegszeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Es besteht aus Narrativen über die Auflösung der europäischen Landimperien mit dem Ersten Weltkrieg und über die westeuropäischen Reaktionen auf die territorialen Bestrebungen des Dritten Reichs bis zum Zweiten Weltkrieg.
Das erste Narrativ, das in den völkerrechtlichen Debatten über das zentrale Recht des ukrainischen Volkes auf Souveränität und Selbstbestimmung herumgeistert, schafft eine Verbindung zwischen dem aktuellen Krieg und der europäischen Ordnung, wie sie aus dem Ersten Weltkrieg durch die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson entstand. Darin steckt nicht nur die unwiderrufliche Legitimität des ukrainischen Widerstands gegen die russischen territorialen und politischen Ziele in der Ukraine. Es profiliert auch die Gefahr, dass die (west-)europäischen Akteure das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine nicht verteidigen werden können oder wollen sowie dass dieses Recht sich erneut in Sprengstoff für den (west-)europäischen Frieden transformiert.
Das zweite Narrativ wird hingegen von Vergleichen des heutigen Russland mit dem nationalsozialistischen Deutschland der 1930er und frühen 1940er Jahre getriggert, das in zahlreichen Presseartikeln und -kommentaren zirkuliert.[4] Existiert schon seit Längerem eine Forschungstradition der gemeinsamen Betrachtung von Nationalsozialismus und Stalinismus aufgrund ihres totalitären Charakters und des Ausmaßes an verübter Gewalt, so stellt die direkte In-Bezug- oder Gleichsetzung von Putin und Hitler ein neues Phänomen in der »westlichen« Öffentlichkeit dar.
Dazu tragen weniger Betrachtungen des Verhaltens der russischen Armee in der Ukraine hinsichtlich möglicher Analogien mit den nationalsozialistischen Gräueltaten an der Ostfront bei. Vielmehr werden immer wieder Parallelen gezogen zwischen der west-europäischen Zurückhaltung im Münchener Abkommen 1938 oder auch 1939 gegenüber einem Krieg gegen Hitler und dem Zögern der EU- und NATO-Staaten vor einer direkteren Involvierung auf der Seite der Ukraine in den letzten zwei Wochen. Auch in diesem Fall dominiert ein mögliches künftiges Kriegsszenario: ein Krieg, der den gesamten europäischen Kontinent – wenn nicht die gesamte Welt – erfasst und total ist. Nicht vordergründig wegen der atomaren Gefahr, sondern wegen des Mangels an Maß und Ratio der Macht, die zu bekämpfen ist (interessante Anknüpfungspunkte ergeben sich hier mit der Debatte über die psychische Gesundheit Putins). Zugleich eröffnet sich der Erwartungshorizont eines Sieges der (europäisch-westlichen) demokratischen Welt, allerdings mit sehr – und vielleicht zu – hohen Kosten.
Definitiv hoffnungslos, aber ruhmreich ist der Zukunftshorizont, der in Selenskyjs Aufruf an internationale Freiwillige mit dem Narrativ des Spanischen Bürgerkrieges anklang. Dieses Narrativ, das die Handlungskraft der Ukraine in den Vordergrund rückt, spielt bisher sicherlich eine weniger prominente Rolle in der historischen Sicht auf den aktuellen Krieg. Dennoch hat, infolge des Aufrufs von Selenskyj, die Presse ausdrücklich Analogien mit den Internationalen Brigaden gezogen.[5] Derartige Analogien beinhalten nicht nur den moralischen Imperativ zur Mobilisierung gegen Russland, sondern auch die Aussicht eines ebenso tragischen wie ungerechten Schicksals für den ukrainischen Widerstand.
Etwas bessere Perspektiven für den ukrainischen Geschichtsakteur zeichnen sich schließlich in den vielen Bezügen ab, die in den letzten Wochen zu den dekolonialen-neoimperialistischen Kriegen der Zeit nach 1945 hergestellt werden. In diesem Kontext häufen sich die Vergleiche und reichen vom französischen Krieg in Algerien über den amerikanischen Konflikt in Vietnam bis zum Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Sie prophezeien viel Leid für die ukrainische Bevölkerung sowie die Verarmung und Destabilisierung einer ganzen Weltregion. Sie versprechen aber zugleich die Unregierbarkeit von Gebieten, die nicht von fremden Mächten beherrscht werden wollen, und somit langfristig den Misserfolg jeglicher Imperialismen.
Die Ubiquität der Zeit, aber welcher Zeit?
Habe ich bisher meinen Fokus auf die Allgegenwart von Geschichtsnarrativen gelegt, so ist eine Ubiquität der Kategorie »Zeit« ebenso frappierend. Jenseits – und häufig losgelöst von – der Anlehnung an konkrete historische Deutungen werden wir in diesen Tagen immer wieder mit Feststellungen konfrontiert, dass der aktuelle Krieg Europa (und die Welt) in der Zeit zurückwirft, als ob die Zeiger der Geschichtsuhr sich auf einmal in die Vergangenheit zurückdrehen könnten. Die Kategorie Zeit ist aber genauso in der plakativen Behauptung zu finden, dass dieser Krieg eine Zeitenwende markiere. Unter anderen haben Claudia Weber[6] und Florian Peters[7] aus zwei verschiedenen Perspektiven bereits darauf hingewiesen, wie problematisch die These einer solchen Zeitenwende ist. Was aber ebenso irritiert, ist die scheinbare Unvereinbarkeit dieser These mit der Idee eines Rückzugs in der Zeit: Soll die Zeitenwende denn nun Aufbruch zu einer neuen oder einer alten Zeit sein?
Die Wirkkraft der Geschichtsnarrative, die ich oben zusammengetragen habe, legt Letzteres nahe, nämlich dass das Neue – nach Jahrzehnten von Debatten über die erst postmoderne (post-1989) und dann anthropozänische Geschichtserschöpfung – eben in der Wiederbelebung der modernen Zeiterfahrung besteht, mit ihrer genuin historischen Entwicklungsdynamik und ihrem vollkommen auf den Menschen fokussierten Erwartungshorizont hinsichtlich des Krieges. Darauf deutet zum Beispiel Olaf Scholz’ Formulierung vor dem Bundestag hin, »auf der richtigen Seite der Geschichte« zu stehen.[8] Die Betrachtung der Geschichte als einheitliche Fortschrittskraft, in deren Namen die menschlichen Akteure (in diesem Fall die bundesdeutsche Regierung) zu handeln denken und der die moralische Urteilsmacht über das Handeln dieser Akteure zugeschrieben wird, ist ein Indikator des gleichen modernen Zeitverständnisses.[9]
Allerdings mahnt gerade die Vorstellung, dass die Zeit, die jetzt beginnen soll, sich als Reenactment des 20. Jahrhunderts in einem düsteren Licht präsentiert, zur Vorsicht. Denn moderne Zeit wird im Grunde als die Verheißung einer Zukunft definiert, die qualitativ neu und besser als die Vergangenheit ist. Konkurrierende Narrative über die Vergangenheit, die dunkle Schatten auf unsere Zukunft werfen, in unserer Gegenwart zu beschwören, passt daher nicht wirklich zum Grundverständnis von Moderne.
Vorstellungen von einer Vergangenheit, die die Gegenwart überschwemmt, durchdringen hingegen eher die Theorien über die postmoderne Zeit. So haben Autor:innen wie Hans Ulrich Gumbrecht und François Hartog bereits vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass die Fähigkeit, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und dabei die Zukunft zu öffnen, in der Postmoderne verloren ging. Ohne diese Fähigkeit, die für die moderne Zeitwahrnehmung kennzeichnend war, erscheint die Gegenwart als eine ausgedehnte Zeitdimension, in der mehrere vergangene Zeiten gleichzeitig bestehen, während die Zukunft sich als Möglichkeitsraum des Neuen verschließt. Dass in diesem Kontext das lineare Zeitgefühl der Moderne ebenso verloren geht, haben u.a. die Thesen über die Beschleunigung von Hartmut Rosa gezeigt: Laut Rosa erfahren wir die Zeit in der Postmoderne als das ungeordnete Wiederkehren von Krisen und Konfliktkonstellationen der Moderne, deren Reihenfolge wir keinen kausalen Sinn mehr verleihen können und die sich uns daher als völlig kontingent präsentieren. Die postmodernen Zeitdiagnosen der »breiten Gegenwart« (Gumbrecht) oder des »rasenden Stillstands« (Rosa) bieten somit interessante Denkanstöße gegen das Gefühl einer Rückkehr der Moderne. Denn sie machen auf das postmoderne Zeitempfinden als einen Mechanismus aufmerksam, durch den die Gegenwart dieses Krieges von einem kakophonischen Gedränge von Gespenstern aus der Vergangenheit des 20. Jahrhunderts gestürmt wird. Zugleich kippt unser Erwartungshorizont auf einmal von der pandemischen Krise in eine Reihe potenziell siegreicher oder vernichtender geopolitischer Konflikte um, ohne dass eine scheinbare Kontinuität zwischen den beiden besteht.
Gerade ihre fehlende Kontinuität, ihre Konkurrenz miteinander sowie der erschreckende Charakter dieser Erwartungshorizonte macht die Zukunft zu einer temporalen Dimension der Wiederholung und Wiederkehr, die beängstigend, verwirrend und nicht zuletzt beliebig wirkt. So eine Wahrnehmung der Zukunft kann sicherlich nicht der Moderne zugerechnet werden. Aber sie lässt sich als Indiz dafür auffassen, dass das Anthropozän mit seiner Öffnung zum radikal neuen Erwartungshorizont des Klimawandels sich in unserem Zeitbewusstsein noch nicht vollkommen verankert und die Postmoderne ersetzt hat.
Mit einer Zuordnung dieser Zeiterfahrung zur Postmoderne möchte ich weder die Gültigkeit dieser Erwartungshorizonte noch die Triftigkeit der einzelnen Geschichtsnarrative für die Orientierung in der Gegenwart bestreiten. Vielmehr, und in einer ähnlichen Richtung wie der Beitrag von Martina Winkler in diesem Buch, geht es mir hier eher darum, vor einem Übermaß des Historischen zu warnen, das die Brille, durch die wir auf das heutige Kriegsgeschehen schauen, trübt. In diesem Übermaß verbirgt sich die Gefahr, dass unser »westlicher« Blick vom Kriegsgeschehen selbst – mit seinen sowohl historisch gewachsenen als auch kontingenten und neuen Dynamiken – auf unseren postmodernen, überforderten Umgang mit den modernen Zeiträumen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlagert wird.
In einem lesenswerten Beitrag hat der ukrainische Anthropologe Volodymyr Artiukh an die westliche Linke appelliert, ihre in antiamerikanischer Tradition stehenden Erklärungsansätze zu hinterfragen und zu erkennen, wie beschränkt und fehlerhaft sie mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine sind.[10] Inspiriert davon versuchen wir uns ein Stück weit von den Geistern der modernen europäischen Geschichte kritisch zu distanzieren, sie in den richtigen Grenzen zu halten, sie zu »provinzialisieren«, um aus dem »Nebel« dieses Krieges neue Handlungsräume und Erkenntnisfähigkeiten über die komplexe, multipolare Welt des Heute sowie neue Erwartungen für das Morgen zu gewinnen.
Anmerkungen
[1] Mit dieser Begriffswahl erlaube ich mir eine assoziative und freie Verwendung des Titels einer der Hauptwerke von Reinhart Koselleck, »Vergangene Zukunft«, ohne damit genau das Phänomen, das Koselleck beschreibt, zu meinen.
[2] Vgl. bspw. Dominic Lieven: Empire. The Russian Empire and its Rivals, New Haven, Conn. 2001; Adeeb Khalid: The Soviet Union as an Imperial Formation, in: Ann Laura Stoler/Carole McGranahan (Hg.): Imperial Formations, Santa Fe, NM 2007, 113–140; Valerie Kivelson/Ronald Suny: Russia’s Empires, New York 2017.
[3] Herfried Münkler: »Wenn Putins Plan scheitert, wird er einen schrecklichen Zerstörungskrieg führen«, Interview, in: Welt am Sonntag, 05.03.2022, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus237295951/Herfried-Muenkler-Wenn-Putins-Plan-scheitert-wird-er-einen-schrecklichen-Zerstoerungskrieg-fuehren.html [05.09.2023].
[4] Diese Debatte hat bereits in den Tagen vor dem Krieg begonnen. Vgl. Patrick Bahners: 1938 und 2022 zusammenzählen, in: FAZ 22.02.2022, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/russland-ukraine-konflikt-darf-man-putin-mit-hitler-vergleichen-17825507.html [05.09.2023].
[5] Bspw. https://www.sueddeutsche.de/meinung/nato-ukraine-krieg-russland-joe-biden-usa-putin-1.5542715?reduced=true [05.09.2023].
[6] Claudia Weber: Zeitenwende? Zeitenwende!, in: Verfassungsblog, 06.03.2022, https://verfassungsblog.de/zeitenwende-zeitenwende/ [05.09.2023].
[7] Siehe den Beitrag von Florian Peters im vorliegenden Buch.
[8] Siehe Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz zum Ukraine-Krieg am 27.02.2022, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356 [05.09.2023].
[9] Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 2015 (9. Auflage, Originalausgabe: 1979), 54–60.
[10] Volodymyr Artiukh: US-plaining is not enough. To the Western left, on your and our mistakes, https://commons.com.ua/en/us-plaining-not-enough-on-your-and-our-mistakes/ [05.09.2023], dt. Übersetzung unter https://www.rosalux.de/news/id/46080/die-usa-sind-nicht-der-nabel-der-welt [05.09.2023].