Visual History, 30. Oktober 2023
Die erstmalige persönliche Teilnahme des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an der diesjährigen UN-Vollversammlung 2023 in New York und an einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats[1] haben die Abwesenheit des von ihm angesprochenen Gegenübers, des russischen Präsidenten Wladimir Putin, sichtbar gemacht – eine Leerstelle, die aufgrund der Forderung des russischen UN-Botschafters, dem ukrainischen Präsidenten das vorgesehene Eröffnungsstatement der Sicherheitsratssitzung im letzten Moment zu entziehen, noch deutlicher wurde. Nach der Annexion der Krim hatte sich Putin 2015 noch mit einer Rede an die 70. UN-Generalversammlung gewandt, in der er unter anderem auch den Krieg der Separatisten im Donbas gegen die Ukraine zu rechtfertigen suchte.[2] Den Wettbewerb um die globale Medienöffentlichkeit, deren Aufmerksamkeit Wladimir Putin mit dem Besuch des wieder ernannten chinesischen Außenministers Wang Yi im Kreml am selben Tag zu gewinnen versuchte, hat der ukrainische Präsident aktuell wohl für sich entscheiden können.
Will man sich die visuelle (Re-)Präsentation der Rolle von Putin in dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine vor Augen führen, erscheint ein Blick in den Kreml notwendig: »Die russische Aggression kehrt langsam an ihren Ausgangspunkt zurück«[3] – in etwa diesen Worten hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner allabendlichen Video-Ansprache am 25. Juni 2023 sowohl die beginnenden, bis heute regelmäßigen, ukrainischen Drohnenangriffe auf russisches Territorium als auch die Rebellion der Söldnertruppe Wagner unter dem Kommando ihres Anführers Jewgeni Prigoschin zusammengefasst.
Der sogenannte Marsch der Gerechtigkeit auf Moskau der im Krieg gegen die Ukraine eingesetzten Söldnergruppe Wagner, der sich gegen deren bevorstehende Eingliederung und Unterstellung unter das Kommando der russischen Streitkräfte richtete, sowie der am selben Tag erfolgte Abbruch und nicht zuletzt die Meldung vom Tod ihres Anführers Jewgeni Prigoschin und eines Teils seiner Vertrauten bei einem Flugzeugabsturz genau zwei Monate nach der Rebellion: All diese Ereignisse verweisen auf die Rolle des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der zu Recht als eine Schlüsselfigur des Geschehens angesehen wird. Um die in diesen Zusammenhängen vermittelten Charakteristika dieser Figur deutlich zu machen, soll im Folgenden das Auftreten des russischen Präsidenten an jenem Ort in den Fokus gerückt werden, von dem aus dieser – wenigstens symbolisch – Krieg und Rebellion zu beherrschen vorgibt: das präsidiale Amtszimmer im Kreml als TV-Studio.
Putin hat sich persönlich von den Schauplätzen der oben erwähnten Ereignisse ferngehalten und stattdessen die Kommunikation mit den Akteuren und der (Welt-)Öffentlichkeit via TV-Ansprachen gesucht. Diese, vorgeblich »an die Bürger Russlands«[4] gerichteten, kurzen Reden, die in seinem Amtszimmer aufgenommen wurden, schließen unmittelbar an die Erklärungen Putins zu dem offiziell nach wie vor als »Spezialoperation« bezeichneten Angriffskrieg gegen die Ukraine an: die nicht so genannte Kriegserklärung zu Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 und die Ankündigung der Mobilisierung von Wehrpflichtigen für den Kampfeinsatz in der Ukraine im September desselben Jahres, die er ebenfalls vom präsidialen Schreibtisch aus via TV verkündet hat.[5] Infolge der Einberufung von Wehrpflichtigen und der darauf folgenden Massenflucht von davon Betroffenen und ihrer Angehörigen, nicht zuletzt aber auch wegen der bis nach Moskau reichenden Drohnenangriffe scheint die »Spezialoperation« als Krieg im russischen Alltag angekommen. Auch deshalb ist es naheliegend, sich die TV-Ansprachen des russischen Präsidenten, die in der offiziellen Kommunikation der russischen Invasion der Ukraine offenbar eine zentrale Rolle einnehmen, einmal genauer anzusehen.
Binnen weniger Tage, in zwei etwa zehnminütigen Einschaltungen am 24. und 26. Juni 2023, wandte sich der Präsident der Russischen Föderation diesmal nicht direkt zum Kriegs-Thema an die Bevölkerung. Er reagierte auf den beinahe ungehinderten Vormarsch der Wagner-Söldner in – der Invasion entgegengesetzten – Richtung Moskau zunächst mit Drohungen und der Metapher vom »Dolchstoß in den Rücken«, in der Folge mit Versprechungen aufgrund der überraschenden Kehrtwende der Rebellen und deren Rückzug. Wie bei den beiden vorangegangenen Fernseh-Ansprachen aus dem Jahr 2022 ist offen geblieben, ob es sich tatsächlich – wie im Ersten Kanal des staatlichen Fernsehens angekündigt – um Live-Übertragungen aus dem Kreml gehandelt hat. Berichte über den Flugbetrieb der Präsidentenmaschine am 24. Juni 2023, dem Tag also, an dem die Ansprache Putins ausgestrahlt wurde, die sich vor allem an die rebellierenden Söldner richtete, legen nahe, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in seiner Residenz in der Nähe von St. Petersburg im Westen Russlands und weitab vom Geschehen aufhielt.
Schließlich hat der Präsident der Russischen Föderation auch persönlich in einem Videogespräch mit einem Reporter in seinem Amtszimmer, das zunächst auf dessen Telegram-Kanal veröffentlicht wurde,[6] den Tod Prigoschins und seiner engsten Mitkämpfer bei einem Flugzeugabsturz als Erster sozusagen amtlich bestätigt. Zuvor war in den russischen Nachrichtensendungen der Absturz der Maschine nur am Rande unter Hinweis auf die Namen auf der Passagierliste erwähnt worden. Putin hat diese für das Amt eines Staatsoberhaupts ungewöhnliche Rolle der offiziellen Bekanntgabe von Todesfällen (noch vor einer forensischen Identifizierung der Todesopfer) über einen Social-Media-Kanal mit seiner Kondolenz an die Familie Prigoschins und einem kurzen Nekrolog verbunden.
Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine im Februar 2022 hat der russische Präsident die TV-Ansprache zu einem zentralen Element seiner Kriegs-Kommunikation gemacht. Mit nunmehr insgesamt vier Ansprachen und einem Video-Statement aus dem Kreml seit Beginn des russischen Angriffs sind Putins TV-Auftritte im Amtszimmer damit zu einem visuellen Rahmen für die Kommunikation von Schlüsselmomenten der Ukraine-Invasion geworden. Einschließlich der Kampfansage und der kurz darauf folgenden Kampfabsage gegen die rebellierenden Söldner dienen sie der persönlichen Veröffentlichung wesentlicher Entscheidungen des russischen Präsidenten in seiner Funktion als militärischer Oberbefehlshaber, was diesen Zusammenhang auch für den tödlichen Flugzeugabsturz nahelegt.
Dieser Intention der TV-Ansprachen, bei denen Putin jeweils alleine zu sehen ist, entspricht offensichtlich auch deren Inszenierung: Für die vier Fernsehauftritte wurde jeweils dieselbe Kamera-Perspektive auf den Schreibtisch des Amtszimmers gewählt. Die beiden ersten zeigen Putin an seinem Arbeitsplatz sitzend – für die Ansprache zur Mobilisierung der Reservisten wurde der Zoom auf sein Gesicht verstärkt eingesetzt –, während die Rebellion Putin zum Aufstehen bewogen zu haben scheint: Er spricht über den Aufstand bzw. zu den rebellierenden Söldnern beide Male stehend vor seinem Schreibtisch. Die von den beiden letzten TV-Ansprachen im Juni 2023 auf der Webseite des Kremls veröffentlichten Porträt-Aufnahmen sollen den Eindruck der Personalisierung offenbar durch einen Fokus auf den Präsidenten vor dem verschwommen gehaltenen Hintergrund der Wandvertäfelung und der dennoch erkennbaren Staatssymbole – präsidiale Standarte (am 24. Juni) bzw. Landesfahne und Staatswappen (am 26. Juni) – noch verstärken (Abb. 1 und 2).
Dem – unsichtbaren – Publikum dieser »Fernseh-Serie« erschließt sich deren Bedeutung aber eher aus Kontextverweisen als aus deren hochgradig konventionalisiertem Ablauf, der auch in den dafür vom Kreml ausgewählten beiden Standbildern zum Ausdruck kommt: Mit dem Festhalten an einer Darstellung des Präsidenten im Amtszimmer wird auf eine Perspektive zurückgegriffen, die den russischen Zuschauer:innen aus der Fernseh-Berichterstattung aus dem Kreml bereits vertraut ist. Dies gilt insbesondere für das (die Serie vorläufig abschließende) Video-Statement, für das der vor dem Schreibtisch angeordnete Konferenztisch genutzt wurde.
Die Zweiergespräche vor Putins Schreibtisch dienen üblicherweise der Entgegennahme der Berichte führender Repräsentanten von Wirtschaft und Staat der Russischen Föderation, die in dieser Form auch auf der Kreml-Website veröffentlicht werden.[7]
Die russischen Fernsehsender bringen dazu in ihren Nachrichtensendungen regelmäßig Gesprächsausschnitte, um die Bevölkerung über die Tätigkeit und vor allem die Anordnungen des Präsidenten zu informieren. Mit ihrem Fokus auf der politischen Berichterstattung über die präsidiale Amtstätigkeit, den sie mit der gesamten Medienöffentlichkeit des Landes teilen, werden institutionelle Verfahren wie Gesetzgebung und Verwaltung gegenüber dem unmittelbaren Zugriff der Präsidialmacht in den Hintergrund der politischen Öffentlichkeit gedrängt.
Der Rückgriff auf das bekannte Arrangement des Amtszimmers des Präsidenten und die geläufigen Präsentationsformen sollen hier wohl wiederum – wie schon in den beiden ersten Ansprachen – die Kontinuität der Amtsgeschäfte und damit auch den Eindruck von »Business as usual« an der Staatsspitze in der Situation einer bewaffneten Rebellion vermitteln.
Die direkte Rede eines Staatsoberhaupts an eine nationale Öffentlichkeit mittels TV-Ansprache – eine etwa in den USA oder in europäischen Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Österreich geläufige Form im Zusammenhang mit bedeutenden politischen Ereignissen oder Entscheidungen – ist in Russland und der Sowjetunion eine von der politischen Führung weniger gebrauchte Kommunikationsform: Üblicherweise werden die großen Reden vor einem in der Regel institutionellen Publikum gehalten oder sind in die Rituale der Feier- und Gedenktage eingebunden, wie etwa die Militärparade zur Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Dieses Muster findet sich aktuell (wie schon 2014 bei der Annexion der Krim) auch bei der Proklamierung der Annexion weiterer ukrainischer Staatsgebiete durch den russischen Präsidenten.
Die TV-Ansprache wird in der Repräsentation der russischen Präsidenten in der Regel zur Übermittlung der Neujahrswünsche an die Bevölkerung eingesetzt, eine Tradition, die von Leonid Breschnew 1970 als Generalsekretär der KPdSU begonnen wurde, die Michail Gorbatschow 1986 nach einer mehrjährigen Unterbrechung (während der Amtszeiten von Andropow und Tschernenko) wieder aufgenommen hat und die bis heute fortgeführt wird. Diese Neujahrsansprachen wurden zwar in Verbindung mit Aufnahmen des Kremls ausgestrahlt, zeigten die russischen Präsidenten – seit Beginn der 1990er Jahre mit dem Ende der Sowjetunion und der Amtsübernahme durch Boris Jelzin – aber nicht im präsidialen Amtszimmer oder in einem anderen der bekannten Amtsräume des Kreml. Ein immer gleich aussehender Arbeits- und Repräsentationsraum im Kreml für die Ansprachen des Präsidenten der Russischen Föderation wird erst seit deren Gründung zu Beginn der 1990er Jahre ins Bild gesetzt. Die Wahl des Amtszimmers von Putin für seine TV-Ansprachen wie auch dessen Einrichtung gehen also auf die Amtszeit Boris Jelzins zurück und dürften wohl internationalen Vorbildern wie vor allem dem Oval Office geschuldet sein. Das Präsidialamt ist in dem auf Initiative Katharinas der Großen im 18. Jahrhundert im klassizistischen Stil errichteten Senatspalast untergebracht, der in den 1990er Jahren zur Amtsresidenz der russischen Präsidenten umgestaltet wurde. Der Senatspalast war bereits der Amtssitz der Generalsekretäre der KPdSU, also der de facto Staatsspitze der Sowjetunion: Von Lenin bis Gorbatschow haben diese aber jeweils eine andere Suite des Gebäudes für ihre persönlichen Amtsräume bzw. als Residenz gewählt.
Leonid Breschnew hat sein Amtszimmer als Erster der Generalsekretäre seit Anfang der 1970er Jahre regelmäßig auch für öffentliche Auftritte und auch im Fernsehen übertragene Pressekonferenzen sowie für eine Reihe von TV-Ansprachen zu unterschiedlichen Anlässen genutzt, von denen sich eine Auswahl auch heute noch etwa auf YouTube-Kanälen findet. Die Stock-Foto-Archive, inklusive das der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS, bieten dazu Fotografien sowohl als Video-Still aus den Reden wie von deren Aufzeichnung an, auch unter Einbeziehung der Scheinwerfer oder von Mitgliedern des Aufnahmeteams.[8] Auch in Filmdokumenten finden sich Ausschnitte aus der Vorbereitung der Fernsehaufnahmen. Ein Teil dieser informellen Aufnahmen wurde bereits im zeitlichen Zusammenhang mit den Reden veröffentlicht und auch in sowjetischen Medien wiederholt gezeigt. Damit hat Breschnew zweifellos eine stilistische Differenz zum formellen öffentlichen Auftreten seiner Vorgänger im Amt hergestellt, um zumindest den Anschein einer zeitweiligen Überwindung der großen zeremoniellen Distanz der sowjetischen Staatsspitze zu ihrer Bevölkerung zu erwecken.
Breschnews Fokus auf sein Amtszimmer im Kreml als Repräsentationsraum – eine Reihe seiner offiziellen Porträt-Fotos wurde ebenfalls dort aufgenommen – hebt sich von den bis dahin erfolgten Traditionen der Darstellung des höchsten Repräsentanten der Sowjetunion ab. Das hier abgebildete Fotoporträt aus den 1970er Jahren zeigt Leonid Breschnew während der Aufnahmen zu einer TV-Ansprache bei einer Rauchpause (Abb. 3). Dieses sowohl in den Foto-Stocks als auch bis heute in russischen Online-Medien häufig zu sehende Porträt wird von letzteren nicht so sehr im Zusammenhang mit der durch die Raucher-Accessoires im Bild betonten Lässigkeit gegenüber den Konventionen offizieller Staatsrepräsentation assoziiert, sondern mit einer spezifischen Ausprägung des sozialistischen Personenkults, der etwa auch im häufigen Tragen der Orden und deren wiederholter, ebenfalls gut dokumentierter Verleihungszeremonien zum Ausdruck kommt.
Die Zurschaustellung persönlicher Gewohnheiten und Vorlieben findet sich auch in Breschnews Porträtfotos als Segler oder Sportwagenfahrer, die ebenfalls zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden und immer noch einen festen Bestandteil (der Visualisierung) seiner Biografie ausmachen.[9] Stärker noch als das Foto mit der Zigarette werden diese Bilder von Breschnew als Ausdruck protokollarisch unbeschränkter Machtausübung verstanden und nicht als Einblick in sein Privatleben angesehen. Die bis dahin ungewohnten, regelmäßigen TV-Auftritte Breschnews in einem direkt an die Zuschauer:innen adressierten Format wurden in der offiziellen Propaganda als Zeichen seiner Volksverbundenheit und Popularität beworben. Er selbst soll sich mitunter sogar in einem Kontext internationaler Stars der Populärkultur gesehen und bezogen auf sein Aussehen einen Vergleich mit Alain Delon nicht gescheut habe.[10]
Dieser für den sowjetischen Alltag ferne Referenzraum mag mit dazu beigetragen haben, dass Breschnews Selbstdarstellung eher mit den über ihn verbreiteten Witzen und Karikaturen in Verbindung gebracht wird.[11]
Diese (Selbst-)Darstellung legt einen Vergleich der Amtsausübung von Breschnew mit der Putins nahe, wie er zum Beispiel auch von der politischen Opposition angestellt wird. Die Abbildung zeigt ein populäres Plakatmotiv der Proteste gegen die Wiederwahl Putins als Staatspräsident aus dem Jahr 2012, das ein Hybrid-Porträt von Breschnew und Putin darstellt (Abb. 4).
Auch ein Detail aus dem Amtszimmer Breschnews findet sich überraschenderweise am Schreibtisch des russischen Präsidenten wieder: die seitlich neben dem Arbeitsplatz angeordnete Reihe weißer Telefonapparate (Abb. 5). Sie wurde über das Ende der UdSSR hinaus in derselben Anordnung beibehalten, wie sie bereits auf Fotografien von Breschnews Amtszimmer zu sehen ist, so etwa auf Aufnahmen von einem Staatsbesuch des damaligen französischen Präsidenten Giscard d’Estaing in Moskau.[12]
Der Osteuropahistoriker Andreas Oberender, der sich in einer Reihe von Beiträgen mit der Breschnew-Ära beschäftigt hat, fasst die Charakteristika von dessen Repräsentation als eine spezifische Ausprägung des staatssozialistischen »Personenkults« zusammen,[13] von denen einige einen Vergleich mit der Amtsführung Wladimir Putins nahelegen: Breschnew zeigte seine visuelle Präsenz nicht nur über regelmäßige Fernsehauftritte, sondern ebenso in einem Dokumentarfilm, auf Künstler-Porträts, durch Büsten etc., und auch seine Besuche in den Sowjetrepubliken wurden in einer Vielzahl von Bildbänden und -broschüren mit hohen Auflagen festgehalten. Oberenders Beobachtung, dass Breschnew der erste Repräsentant an der Staatsspitze der Sowjetunion und damit auch Russlands gewesen sei, der eine weit über die Repräsentation seiner Position und der Amtsgeschäfte hinausgehende Selbstdarstellung aktiv betrieben hat, erscheint mir zutreffend und der medialen und damit visuellen Omnipräsenz Wladimir Putins im heutigen Russland vergleichbar.
Legitimiert wurde dieser Fokus auf den Spitzenrepräsentanten der Sowjetunion vor allem mit Breschnews offizieller Biografie: Sukzessive wurde im Laufe seiner Amtszeit aus einer Kommandoaktion in der heutigen Ukraine, die er als Unteroffizier im Zweiten Weltkrieg befehligte, ein zentrales Geschehen im siegreichen Großen Vaterländischen Krieg, weshalb Breschnew sich 1976 zum Marschall der Sowjetunion – der höchste militärische Rang – ernennen ließ. Auch die Strukturen der Machtausübung in der Ära Breschnew weisen, folgt man Oberenders Argumentation,[14] einige Parallelen zur Ära Putin auf: Er beschreibt die Rekrutierung der Machtelite als ein Klientel-System, nach dem Breschnew die Schlüsselstellen der Hierarchie besetzte. Aufgrund der persönlichen und für die jeweils unmittelbare Klientel auch ökonomischen Vorteilnahme verwendet Oberender dafür den – für die Strukturen der aktuellen Machtausübung in Russland – zentralen Begriff der Oligarchie.[15]
In diesem Zusammenhang lässt sich die aktuell von Putin wieder aufgenommene Kommunikation über TV-Ansprachen auch als Ausdruck der Distanz zum Publikum deuten, als dessen Surrogat die Kamera mit dem Ziel eines Ersatzes unmittelbarer Kontakte auftritt. Die Amtsräume werden damit zu einem Ort des – medial vielfach beobachteten und kommentierten – Rückzugs von Putin aus dem öffentlichen Geschehen, den eine Reihe von Kommentatoren als Hintergrund seines politischen Handelns ansieht.[16]
Dieser Eindruck wird in den hier in den Blick genommenen TV-Ansprachen durch eine ausschließlich in den Raum gerichtete Kamera-Perspektive verstärkt, die keinen Blick nach Außen zulässt, etwa durch Fenster, wie wir sie aus dem Oval Office oder dem Amtsraum des französischen Staatspräsidenten im Élysée-Palast als Hintergrund häufig zu sehen bekommen. Von Leonid Breschnew bis zu Wladimir Putin scheinen die sowjetischen Generalsekretäre und die russischen Präsidenten ihre amtlichen Alltagsgeschäfte in Räumen auszuüben, die durch blickdichte Vorhänge keinen Blick nach draußen zu- und nur wenig natürliches Licht einlassen. In der Darstellung Putins in seinen TV-Ansprachen wird dieser Eindruck durch die bildbeherrschende dunkle Holzvertäfelung des Raumes im Hintergrund des Schreibtisches unterstützt.
Wladimir Putin hat sich in seinem Amtszimmer als visuellem Raum des (militärischen) Oberbefehls und mit der auf seine Person bzw. Funktion beschränkten Perspektive in den TV-Ansprachen zu den wesentlichen Entscheidungen der Ukraine-Invasion wie Krieg, Mobilisierung von Reservisten und die Reaktion auf eine Rebellion nicht etwa an das Parlament oder exekutive Organe der Russischen Föderation gewandt, sondern zunächst an ein (mit Ausnahme der Video-Aufnahme) für die Zuschauer:innen unsichtbares Publikum.
Diese Bildauswahl eröffnet Raum für Spekulationen, die mit Putins Handeln auch zahlreich verbunden werden. Sie reichen von psychologischen Deutungen über seinen Gesundheitszustand bis zu einer Reihe von historischen Anspielungen und ideologischen Rahmungen, die von der russischen Propaganda gesetzt werden: Von den großen Zaren (Iwan, Peter, Katharina) über den Großen Vaterländischen Krieg bis hin zu Neurussland als Teil eines historischen imperialen Raumes bleibt nichts ausgespart. Für diesen eklektischen Umgang mit der russischen Geschichte, den der französische Philosoph Michel Eltchaninoff in seinem Essay über »Putin und die Philosophie« als Praktiken eines »Imperialismus à la carte« beschreibt,[17] erscheint der Senatspalast ebenso wie das Amtszimmer im (neo)klassizistischem Stil als eine ideale, weil historisierende Bühne.
Legitimität, so lässt sich der visuelle Referenzrahmen der TV-Ansprachen deuten, wird in dieser politischen Kultur Russlands nicht prozessual hergestellt, sondern dargestellt: Die Repräsentation der Staatsspitze scheint zu diesem Zweck selbst einem eklektischen Stil zu folgen, der einen Remix historischer Formen der Machtentfaltung aus der russischen Geschichte verwendet. Vielleicht sollte deshalb den einzelnen ideologischen und historischen Referenzen aufgrund ihrer Austauschbarkeit keine allzu große Bedeutung beigemessen werden.
Für die Ära Breschnew wird der im Rückblick der Lächerlichkeit preisgegebene Personenkult nicht erst in der Retrospektive auch als Symptom einer Endzeit gedeutet – beschleunigt durch das von der UdSSR 1979 auf Befehl Breschnews erfolgte Eingreifen sowjetischer Truppen in den Afghanistan-Krieg. Im Jahr 1979 hielt Breschnew auch seine letzte persönlich vorgetragene Neujahrsansprache im sowjetischen Fernsehen: mit einiger Mühe, wie Filmdokumente der Aufnahme belegen.[18] In den folgenden Jahren bis zu seinem Tod im Amt wurden seine Neujahrswünsche von einem Sprecher verlesen. Ob und in welcher Form für die hier diskutierte »Fernseh-Serie« Wladimir Putins eine Fortsetzung folgt, wird man sehen.
Anmerkungen
[1] Vgl. ZDF heute: Vor UN-Sicherheitsrat: Selenskyj beklagt Machtlosigkeit der UN, 20.09.2023, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/selenskyj-un-sicherheitsrat-ukraine-krieg-new-york-russland-100.html [25.10.2023].
[2] Eine Dokumentation der Rede unter http://en.kremlin.ru/events/president/news/50385 [25.10.2023].
[3] Video-Ansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vom 25.06.2023, https://www.president.gov.ua/en/videos/videos-archive [25.10.2023].
[4] Zitiert nach: Wladimir Putins Rede zum Wagner-Aufstand im Wortlaut, in: ZEIT Online, 24.06.2023, https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-06/wladimir-putin-rede-gruppe-wagner-russland [25.10.2023].
[5] Siehe dazu Andreas Pribersky: Ukrainische »Nachtwache«, in: Visual History, 11.04.2022, https://visual-history.de/2022/04/11/pribersky-ukrainische-nachtwache/ [25.10.2023].
[6] Telegram, 24.08.2023, https://t.me/zarubinreporter/1185 [25.10.2023].
[7] Siehe z.B. die Aufnahmen von einem »Arbeitstreffen« Putins in seinem Amtszimmer vom August 2023 auf der Website: President of Russia: Meeting with Chairman of VEB. RF Igor Shuvalov, http://en.kremlin.ru/events/president/news/72148 [25.10.2023].
[8] Siehe dazu z.B. die Auswahl, die die Bildagentur Getty Images anbietet: https://www.gettyimages.at/fotos/leonid-breschnew-kreml-office?assettype=image&phrase=leonid%20breschnew%20kreml%20office&sort=best&license=rf,rm [25.10.2023].
[9] Siehe dazu z.B. in der englischsprachigen Wikipedia beim Eintrag zu Leonid Brezhnev den Abschnitt »Personal Traits«, https://en.wikipedia.org/wiki/Leonid_Brezhnev [25.10.2023]. Einen Überblick über Breschnews Sammlung von Luxuswagen bietet »Russia Beyond«, samt einer Aufnahme der Übergabe eines Lincoln Continental durch Richard Nixon anlässlich seines Staatsbesuchs in den USA im Jahr 1973 als Gastgeschenk und Nixons »Zeugenaussage« zu Breschnews Fahrstil, https://www.rbth.com/history/336477-what-cars- were-in-brezhnevs-collection [25.10.2023].
[10] Siehe dazu das Interview mit der Historikerin Susanne Schattenberg über deren Breschnew-Biografie: »Er fand, er sehe aus wie Alain Delon«, in: Spiegel online, 30.12.2017, https://www.spiegel.de/spiegel/leonid-breschnews-unbekannte-seite-a-1185476.html [25.10.2023].
[11] Siehe dazu u.a. Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, München 2017, 200.
[12] Diese Aufnahmen finden sich bei Getty Images, siehe https://www.gettyimages.fi.
[13] Andreas Oberender, »Das Haupt unserer Partei und unseres Staates«. Führerherrschaft und Führerkult unter Leonid Brežnev, in: Benno Ennker/Heidi Hein-Kircher (Hg.): Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010, 200–215.
[14] Andreas Oberender: Die Partei der Patrone und Klienten. Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev, in: Annette Schuhmann (Hg.): Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln 2008, 57–76, online unter https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/index/index/docId/505 [25.10.2023].
[15] Ebd., 64.
[16] Siehe dazu etwa den Beitrag im Deutschlandfunk: Osteuropa-Historiker Schlögel wirft Putin Wirklichkeitsentfremdung vor, in: Karl Schlögel im Gespräch mit Sabine Adler, DLF, 27.02.2022, https://www.deutschlandfunk.de/historiker-schloegel-nennt-putin-wirklichkeitsfremd-100.html [25.10.2023], oder den französischen Dokumentarfilm von Guy Lagache aus dem Jahr 2022 »Un président, l’Europe et la guerre: Documentaire au cœur de la cellule diplomatique de l’Élysée«, über Emmanuel Macrons (und dessen Mitarbeiterstab) Erfahrungen als EU-Ratspräsident mit den Verhandlungen rund um den Beginn der russischen Invasion.
[17] Michel Eltchaninoff: Dans la tête de Vladimir Poutine, Arles 2015, 149f.
[18] »Leonid Brezhnev New Year’s Address 1979«, @scottwpalmer, in: YouTube, 07.01.2016, https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=E66oM2iAMwM [25.10.2023].