Russlands Überfall auf die Ukraine – Eine Zeitenwende?

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Blau-gelbe Fahne und Porträtfoto eines Mannes

Twitter-Account Wolodymyr Selenskyjs (@ZelenskyyUa) 

2. März 2022

 

»Zeitenwende«: Gleich mehrfach gebrauchte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Krieg in der Ukraine am 27. Februar im Deutschen Bundestag dieses Wort, um zu beschwören, dass seit dem russischen Überfall auf die Ukraine plötzlich alles ganz anders sei. Außenministerin Annalena Baerbock hatte schon am Morgen des russischen Überfalls bekundet: »Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.« Und der ukrainische Verteidigungsminister Oleksii Resnikow sprach seinen Soldaten und allen Ukrainerinnen und Ukrainern am Morgen des dritten Kriegstags via Twitter Mut zu mit den Worten: »Diese drei Tage haben die Ukraine und die Welt für immer verändert«.

Doch provozieren die großen Worte von der Zeitenwende die Skepsis des Zeithistorikers. Mit einigem zeitlichen Abstand hat sich schon manche eilig ausgerufene historische Zäsur als weniger einschneidend erwiesen, als sie im Eifer des Moments noch scheinen mochte.[1]

Im Falle der deutschen Bundesregierung stößt die eminent politische Absicht, mit der der russische Angriffskrieg zum unvorhersehbaren historischen Wendepunkt erklärt wird, übel auf. Bundeskanzler Scholz, der vor wenigen Tagen noch Waffenlieferungen an die Ukraine ausschloss und sich aus Rücksichtnahme auf Putin sogar zierte, die Wörter »Sanktionen« und »Nord Stream 2« zusammen in den Mund zu nehmen, ist offenkundig daran gelegen, den historischen Einschnitt maximal zu dramatisieren, der zwischen diesen überholten Positionen und seiner jetzigen Politik liegt. Nicht anders verhält es sich mit seiner Außenministerin, die vorher offenbar lange geschlafen hat, wenn sie erst jetzt den Ernst der Lage erkennt. Beiden geht es mit ihrer Zäsur-Rhetorik darum, ihre politische 180-Grad-Wende plausibel erscheinen zu lassen und kritischen Nachfragen nach eigenen Versäumnissen auszuweichen.

Trotz dieses späten Erwachens in Berlin und andernorts sieht sich die Ukraine nun gezwungen, ihre Unabhängigkeit und Freiheit gegen einen militärisch übermächtigen Aggressor zu verteidigen – und zwar allein. Dass die ersten Vorstöße der russischen Truppen auf Kiew und Charkiw offenbar weniger erfolgreich waren als befürchtet, wird von den Ukrainern verständlicherweise als Scheitern einer unterstellten Blitzkrieg-Strategie gedeutet. Ist das schon eine historische Zäsur? Fest steht bisher nur eines: Wenn es in diesem Krieg nicht um militärische Stärke ginge, sondern um kommunikatives Geschick in den »sozialen Netzwerken« des heimischen und globalen virtuellen Raumes, dann hätte die Ukraine ihn schon jetzt haushoch gewonnen.

 

Krieg in Europa

Die in der deutschen Öffentlichkeit allgegenwärtige Formel, »der Krieg« sei plötzlich »nach Europa zurückgekehrt«,[2] ist Ausdruck eines verständlichen Schocks, doch sie hat einen schalen Beigeschmack. Besonders problematisch wird es, wenn gleich vom »ersten Angriffskrieg in Europa seit 1945« die Rede ist. Das Raunen der Boulevardpresse von einer »Schlacht um Kiew« mag aus guten Gründen Assoziationen an die dunkelsten Jahre der deutschen Geschichte wecken. Gerade heute, da uns die historische Verantwortung Deutschlands so deutlich in Erinnerung gerufen wird, wäre es ein Ausweis fataler Geschichtsblindheit, zu übersehen, dass auch die Bundeswehr bereits an einem Angriffskrieg in Europa beteiligt war – dem Bombardement Serbiens 1999 als Teil der jugoslawischen Nachfolgekriege der 1990er Jahre. Glücklicherweise haben die deutschen Medien hier rasch dazugelernt; manche veröffentlichen sogar Auflistungen von Kriegen und bewaffneten Konflikten in Europa, um verfehlte historische Superlative zu widerlegen.[3]

Wir sollten auch nicht aus dem Sinn verlieren, dass die Rede von der »Rückkehr des Krieges nach Europa« einer engstirnigen eurozentrischen Sichtweise entspringt, die vor Kriegen und Konflikten jenseits der Grenzen unseres Kontinents die Augen verschließt und sich die aus diesen Gebieten fliehenden Menschen am liebsten vom Leibe halten will. Vor allem aber sieht diese Wahrnehmung geflissentlich darüber hinweg, dass »der Krieg« auch in Europa längst schon da war. Putins offen völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 und der mehr schlecht als recht als innerukrainischer Konflikt getarnte, von Russland angezettelte und finanzierte Krieg im Donbass waren der Auftakt für das, was wir heute erleben. Von der Vielzahl der bestenfalls eingefrorenen militärischen Konflikte im postsowjetischen Raum, von Transnistrien über Tschetschenien bis Bergkarabach, ganz zu schweigen.

Qualifizierende Anmerkungen wie diese mögen kleinlich wirken, und sie dürfen auf keinen Fall als Relativierung des Krieges verstanden werden, den die Ukraine in diesen Tagen erlebt. Die Dimension, die der russische Überfall bereits heute angenommen hat, und die Opfer, die den Menschen in den Millionenstädten Kiew und Charkiw, in Tschernihiw, Mykolajiw und Mariupol aller Wahrscheinlichkeit nach noch bevorstehen, machen diesen Krieg tatsächlich zum größten militärischen Konflikt, den Europa seit 1945 gesehen hat. In seiner Dimension unterscheidet sich das, was die Ukrainerinnen und Ukrainer heute erleben müssen, auch grundsätzlich von den Kämpfen um die Krim und den Donbass seit 2014.

Trotzdem ist Kontextualisierung nicht gleichbedeutend mit Relativierung. Vielmehr hilft sie, den Blick zu schärfen und sich nicht zuletzt die eigenen blinden Flecken ins Bewusstsein zu rufen. Für alle, die nicht wie wir aus sicherer Entfernung zuschauen, ist »der Krieg« weder ehrfurchtgebietender Vater aller Dinge noch abstrakte Analysekategorie, sondern tödliche Realität.

 

»Geschichtsvorlesungen mit beigefügter Kriegserklärung«

Die Wahrheit stirbt im Krieg bekanntlich immer zuerst. In welcher Weise sind Historiker:innen in dieser Situation gefragt? Was können sie zur Analyse und Einordnung dieses Krieges beitragen, solange völlig unklar ist, welchen Informationen zu trauen ist? Martina Winkler hat auf zeitgeschichte | online davor gewarnt, sich auf bloße Faktenchecks einzulassen, die Putins verquaste historische Monologe widerlegen und sich damit doch nur auf die schiefe Ebene seiner revisionistischen Agenda begeben würden. Offen gelassen hat sie allerdings, welche Verantwortung Historiker:innen, insbesondere denjenigen, die sich mit der Zeitgeschichte des östlichen Europas befassen, angesichts eines solchen Krieges sonst zukommen könnte.

Corinna Kuhr-Korolev und Martin Schulze Wessel wiederum haben Putins »Geschichtsvorlesung mit beigefügter Kriegserklärung« (Schulze Wessel) kundig in den Kontext der seit Jahren forcierten repressiven Geschichtspolitik des Kreml eingeordnet. Diese Dekonstruktion ist von elementarer Bedeutung, belegt sie doch die Haltlosigkeit der geopolitischen Ansprüche des Möchtegern-Historikers Wladimir P., die mit legitimen russischen Sicherheitsinteressen weniger zu tun haben als mit der voranschreitenden Selbstviktimisierung eines alternden Potentaten. Angesichts der immer noch vorhandenen Bereitschaft in Teilen der deutschen Bevölkerung, die böswilligen geschichtspolitischen Märchen des Kreml für glaubhaft zu halten, stehen einschlägig ausgewiesene Historiker:innen in der Pflicht, diesen öffentlich entgegenzutreten, und viele Kolleg:innen tun das auch bereits.

Ich denke, die Verantwortung speziell von Zeithistoriker:innen reicht jedoch noch weiter. Wenn unsere spezifische Kompetenz darin besteht, eine disparate Vielzahl von Quellen kritisch zu bewerten, die dahinterstehenden Sinnwelten und Interessen zu dekonstruieren und Einzelereignisse in zeitlich übergreifende Kontexte und Entwicklungslinien einzuordnen, dann sind wir gerade in diesen Tagen gefragt, zumindest vorläufige, skizzenhafte historische Einordnungen des gegenwärtigen Geschehens zu liefern.

Dazu gehört auch, klar zu benennen, dass der Westen seinen Teil der Verantwortung dafür trägt, dass die Ukraine der russischen Militärmaschinerie heute alleine die Stirn bieten muss. Denn nach allem, was wir wissen, ist Putins Beharren auf den mündlichen Versprechungen der USA von 1990, die NATO nicht über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus nach Osten zu erweitern, nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die im National Security Archive online zugänglichen Original-Dokumente[4] und die empirisch gesättigten diplomatiegeschichtlichen Studien von Mary Elise Sarotte[5] lassen in der Tat kaum einen anderen Schluss zu, als dass der Westen die Schwäche der Sowjetunion in der Umbruchsituation von 1989–1991 ausgenutzt hat, anstatt die Chance für den Aufbau einer kollektiven Sicherheitsarchitektur in Europa zu nutzen.

Diese verpasste Chance zur Kenntnis zu nehmen, heißt noch lange nicht, die grotesken Schlussfolgerungen zu akzeptieren, die Putin daraus zieht. Wir müssen heute allerdings erleben, dass es womöglich weitsichtiger gewesen wäre, in den 1990er Jahren ernsthaft auf eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur hinzuarbeiten. Erst dieses Versäumnis ließ die NATO so alternativlos erscheinen, dass die Ostmitteleuropäer:innen bald auf einen zügigen Beitritt drängten. So gesehen ist die Ukraine, nicht Russland, die Hauptleidtragende der NATO-Osterweiterung – ein geopolitisches Grenzland (nomen est omen), für das sich niemand verantwortlich fühlte und das als solches der imperialistischen Expansion Moskaus schutzlos ausgeliefert ist. Während Putin mit dem wiederholten Hinweis auf russische Sicherheitsinteressen zumindest auf Aufmerksamkeit zählen konnte, hat sich für die legitimen Sicherheitsinteressen der Ukraine lange kaum jemand interessiert.

Ein großer Teil der Betroffenheit und auch der schnellen und harten Sanktionen gegen den Aggressor Russland verdanken sich dem zumindest unterbewussten schlechten Gewissen des Westens gegenüber der Ukraine. Dass nun sogar deren eventuelle Aufnahme in die Europäische Union ernsthaft erwogen wird, hat zunächst symbolische Bedeutung. Es macht aber Hoffnung, dass die Ignoranz der Vergangenheit nicht so schnell wiederkehrt.

 

Der Krieg der Videoclips

Tragfähige historische Urteile zu formulieren, solange die Ereignisse noch in vollem Gange sind, ist schwierig und riskant. Gegenwartsnahe Zeitgeschichtsschreibung ist freilich allzu oft dazu verdammt, auf den komfortablen zeitlichen Abstand der Archivsperrfristen zu verzichten. Malte Thießen hat mit seiner »Gesellschaftsgeschichte der Corona-Pandemie« jüngst gezeigt, dass dies kein unmögliches Unterfangen ist.[6] Es versteht sich von selbst, dass es für eine historische Bestandsaufnahme dieses Krieges noch zu früh ist. Historiker:innen sollten jedoch schon jetzt darüber nachdenken, auf welcher Quellengrundlage sie dessen Geschichte dereinst werden schreiben können.

Denn eine wichtige Einsicht der letzten Tage ist: Zu den Waffen dieses Krieges gehören nicht nur Panzer, Raketen und Fregatten, sondern auch die Videoclips, Selfies und unzähligen Botschaften in den »sozialen Netzwerken«, mit denen die ukrainische Regierung und die Zivilgesellschaft in den ersten Kriegstagen die Deutungshoheit über den Konflikt errungen haben – zumindest überall dort, wo der Zugang zu diesen Internet-Medien einigermaßen unbeschränkt möglich ist. Angesichts dessen stehen wir in nochmals verschärftem Maße vor dem Problem, solche audiovisuellen Diskurse zu archivieren und für künftige Untersuchungen zugänglich zu machen, aber auch ihre reale Reichweite valide zu beurteilen.

Jüngste Stellungnahmen offizieller russischer Stellen (etwa zu vermeintlicher »Folter« russischer Gefangener durch ukrainische »Nationalisten« oder zu ukrainischen Zivilisten, die »in Kellern« ausharren und dort vermeintlichen Falschinformationen aufsitzen) deuten darauf hin, dass auch in Russland massenhaft Informationen über unkontrollierte Online-Kanäle verfügbar sind. Laut einer TASS-Mitteilung gestand der Vorsitzende des Sicherheitsausschusses des Staatsduma Wassili Piskarew am 28. Februar offen ein: »Wir registrieren eine riesige Menge, eine echte Welle von Fake-News über den Fortschritt der speziellen Militäroperation, über die Zahl der Opfer usw. Es liegt auf der Hand, dass die meisten davon in der Ukraine erzeugt werden. Dennoch werden sie von einer Reihe russischer Medien sowie von Nutzern sozialer Netzwerke bereitwillig weiterverbreitet.«[7] Damit dürfte die plumpe Leugnung des Angriffskriegs durch die Kreml-Propaganda zusehends in sich zusammenfallen, zumindest was die jüngere, internetaffine Generation der Russinnen und Russen betrifft.

Putin mag seinen (möglicherweise von langer Hand geplanten) Krieg des 20. Jahrhunderts gewinnen, doch scheint er drauf und dran, den Krieg des 21. Jahrhunderts zu verlieren. Was für eine Schmach für eine selbsternannte Weltmacht: Während der Kreml-Autokrat mit einer bizarren Corona-Phobie auf sich aufmerksam macht und ansonsten nur öde Inszenierungen wie die angeblich ergebnisoffene Beratung mit seinen Paladinen über die Anerkennungsgesuche der vermeintlichen »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk zu bieten hat, die die Surrealität der spätsowjetischen 1980er Jahre atmen, führt ausgerechnet der belächelte kleine Bruder in Kiew vor, wie effektive Kriegspropaganda im Zeitalter des Internets aussieht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, als Politiker bis Kriegsausbruch eher mäßig erfolgreich, als einstiger Fernseh-Comedian aber bestens mit den Codes zeitgemäßer medialer Kommunikation vertraut, lässt seinen Widerpart im Kreml im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen.[8]

 

»Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«

Wer die Handyvideos von unbewaffneten ukrainischen Zivilisten[9] gesehen hat, die russischen Panzern die Durchfahrt durch ihr Dorf verwehren, bekommt eine Ahnung davon, dass es beim Krieg um Selfies und Videoclips nicht um Haltungsnoten geht, sondern um reale Macht über die Köpfe und Herzen der Menschen. Der bisherige Kriegsverlauf deutet darauf hin, dass die ukrainische Armee angesichts der russischen Luftüberlegenheit auf eine eher defensive Partisanentaktik setzt und dabei in allen (auch den russischsprachigen) Landesteilen auf den ungebrochenen Widerstandsgeist der Zivilbevölkerung bauen kann.[10] Anders als noch 2014 sind die Ukrainer:innen nicht mehr auf Freiwilligenbataillone teils zweifelhafter ideologischer Provenienz angewiesen, sondern organisieren sich in den von der regulären Armee dirigierten Territorialverteidigungskräften. Russlands militärtechnische Überlegenheit scheint erdrückend, aber die unübersehbaren logistischen Probleme seiner Truppen zeigen aufs Neue, dass flexibles »just in time«-Denken mit blindem Gehorsam schwer vereinbar ist.

Leider macht all dies einen langen und blutigen Krieg wahrscheinlicher. Dass sichtbare Erfolge der russischen Offensive ausbleiben und der Druck auf Putins Generäle stündlich wächst, macht sich schon jetzt in der zunehmenden Brutalität und Rücksichtslosigkeit der russischen Bombardements auf Wohngebiete in Kiew und Charkiw bemerkbar. Sollte sich diese Konstellation verfestigen, gibt es für beide Seiten nichts zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren.

Alles spricht dafür, dass dieser Krieg, wie auch immer er militärisch ausgehen wird, den seit Jahren voranschreitenden Prozess der nationalen Konsolidierung in der Ukraine vollenden dürfte. Selbst wenn es Putin gelingen sollte, in Kiew oder Charkiw einen moskautreuen Marionettenstaat zu installieren, werden die russischen Sicherheitsorgane mit dieser ukrainischen Gesellschaft auf Jahre hinaus wenig Freude haben.

Verworrener erscheinen die Perspektiven für Russland. Die bohrende, 1961 von Jewgeni Jewtuschenko nur rhetorisch aufgeworfene Frage »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?«, ist momentan schwer zu beantworten. Die Zahl mutiger Demonstrantinnen und Demonstranten, die ihrem Protest gegen Putins Krieg täglich auf den Straßen und Plätzen unzähliger russischer Städte Ausdruck verleihen, ist zweifellos beeindruckend, ebenso wie der Widerspruch, der sich im russischsprachigen Internet kundtut. Die westlichen Wirtschaftssanktionen werden auch an der russischen Mehrheitsgesellschaft nicht spurlos vorbeigehen. Kurzfristig scheint dennoch nur eine Palastrevolution imstande, das System Putin zu Fall zu bringen. Aus der Geschichte der Sowjetunion und des Ostblocks wissen wir freilich, dass ein Regime, das auf Lügen aufgebaut ist und seinen Bürgerinnen und Bürgern wirtschaftliche Prosperität und Wohlstand vorenthält, langfristig schlechte Überlebenschancen hat.

Nicht die ersten drei Tage dieses Krieges haben die Ukraine so verändert, dass dieses vernachlässigte Grenzland am Rande Europas der Herausforderung gewachsen scheint, sich glaubhaft zur Verteidigerin universaler demokratischer Werte aufzuschwingen. Der schwierige und immer wieder von Hindernissen und Widersprüchen begleitete Weg der ukrainischen Gesellschaft in eine leidlich stabile demokratische Ordnung hat schon viel früher begonnen, spätestens mit der Maidan-Revolution von 2013/14. Russlands unablässige Versuche, diesen Weg mit Gewalt zu versperren, haben die Ukraine nicht aufhalten können. Dass der Westen und auch Deutschland all dies erst jetzt mitzubekommen scheinen, kann man nur ignorant und bedauerlich finden. Hunderte, wohl Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer bezahlen für diese Ignoranz jetzt mit ihrem Leben. Vielleicht sorgt das grelle Licht der Weltöffentlichkeit, das nun auf Kiew und die Ukraine gerichtet ist, dafür, dass wir zumindest in dieser Hinsicht eine Zeitenwende erleben?

 

Anmerkungen

[1] Zur immanenten Subjektivität und Perspektivgebundenheit historischer Zäsuren vgl. Martin Sabrow: Zäsuren in der Zeitgeschichte, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2013, https://docupedia.de/zg/Zaesuren
[05.09.2023].

[2] So paradigmatisch bei Jörg Baberowski: Ein Krieg, erfüllt vom Geist der Rache, in: FAZ, 01.03.2022, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/russland-was-auf-frieden-in-der-ehemaligen-sowjetunion-hoffen-laesst-17841055.html [05.09.2023].

[3] Siehe etwa die ZDF-heute-Sendung vom 25.02.2022, https://www.zdf.de/nachrichten/politik/krieg-konflikt-europa-1945-sowje… [letzter Aufruf: 02.03.2022].

[4] Siehe https://nsarchive.gwu.edu/briefing-book/russia-programs/2017-12-12/nato-expansion-what-gorbachev-heard-western-leaders-early [05.09.2023].

[5] Mary Elise Sarotte: 1989. The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009; sowie jüngst dies.: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven 2021.

[6] Vgl. Reinhild Kreis: Rezension zu Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Corona-Pandemie, in: H-Soz-Kult, 11.02.2022, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97536 [05.09.2023].

[7] Siehe das bemerkenswerte Eingeständnis im Zusammenhang mit einem geplanten Gesetz der Staatsduma gegen Fake-News über die russischen Streitkräfte: »Мы фиксируем огромное количество, просто вал фейковых новостей о ходе специальной военной операции, о количестве потерь и так далее. Понятно, что большинство из них генерируется на Украине.
Тем не менее они охотно распространяются рядом российских СМИ, а также пользователями в соцсетях.« (28.02.2022), https://tass.ru/politika/13900641 [05.09.2023]; vgl. ausführlicher auch hier: https://oko.press/goworit-moskwa-5-propaganda-zostaje-w-tyle [05.09.2023].

[8] https://twitter.com/nexta_tv/status/1497257833095733252 [05.09.2023].

[9] https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=PwbGAuS_KwM [05.09.2023].

[10] Siehe z.B. die täglich publizierten militärischen Lageberichte des polnischen Ośrodek Studiów Wschodnich, mit leichtem zeitlichem Verzug auch auf Englisch verfügbar: https://www.osw.waw.pl/en [05.09.2023].

 

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