13. September 2022
Während so mancher Streit um eine Insel mit einer Flasche Schnaps beigelegt werden kann,[1] sind andere Konflikte ungleich komplizierter. Als Russland am 24. Februar 2022 die gesamte Ukraine angriff, näherte sich das russische Kriegsschiff Moskwa der Schlangeninsel, die international als Snake Island beziehungsweise Serpent Island bekannt ist. Die Aufforderung an die auf der Insel stationierten ukrainischen Soldaten, sich zu ergeben, wurde mit einem vulgären Ausdruck quittiert, der auf Deutsch sinngemäß (wenn auch bedeutend abgeschwächt) mit »Russisches Kriegsschiff, verpiss dich« übersetzt werden kann.
Umgehend wurde dieser Spruch unter Ukrainer:innen und sich Solidarisierenden aufgegriffen, auf Demonstrationen sowie in den sozialen Medien reproduziert und der Mut des Soldaten gefeiert: Die Schlangeninsel wurde zu einem Symbol von Heldentum, Widerstand und Trotz und ist seitdem in aller Munde. Doch »gibt« es die Schlangeninsel nicht erst seit dem Februar 2022 – diese Insel, die mit ihren 17 Hektar nicht einmal halb so groß ist wie die Münchener Theresienwiese, spielte auch schon vorher eine Rolle. Und das nicht nur für die Ukraine bzw. Russland. Grund genug, auf die Zeit vor der Ankunft des »russischen Kriegsschiffes« zu schauen.
Ein strategisch wichtiger Fleck
Dank ihrer Lage ist die Schlangeninsel ein strategisch wichtiger Punkt. Sie liegt keine 50 Kilometer vor dem Donaudelta, welches an der Grenze zwischen Rumänien und der Ukraine in das Schwarze Meer hineinragt. Die Insel liegt somit in einem historischen und physischen Raum, in dem die Hoheitsgebiete vieler Staaten aufeinandertreffen: Nicht nur die Ukraine und Russland, auch Rumänien, Bulgarien, die Türkei und Georgien teilen sich das Schwarze Meer. Somit ist die geopolitische Bedeutung der Schlangeninsel unverkennbar. Aber auch ein anderer Punkt macht sie besonders attraktiv, denn dort, wo sich die Insel befindet, werden Ölreserven vermutet.
Die Schlagzeilen der letzten Wochen lassen erkennen, dass die strategische Bedeutung auch globalen Einfluss hat: Die zwischenzeitlich besetzte und seit Ende Juni wieder zurückeroberte Insel[2] wurde als militärischer Posten Russlands genutzt. Nicht nur die Nähe zum ukrainischen Festland und zur Hafenstadt Odessa war für Russland strategisch wichtig; durch die Seeblockade wurde der sichere Export ukrainischen Getreides wochenlang verhindert, was Russland ein weiteres Druckmittel gab. Die per Seeweg unmöglich gewordene sichere Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine hat immense Auswirkungen auf viele Weltregionen, da der Staat einer der größten Weizenexporteure weltweit ist.
Die Frage nach sicherer Getreideausfuhr ist in dieser Region nicht neu. Die Donau, die seit den Exportschwierigkeiten als Alternativroute für ukrainischen Weizen zur Debatte steht, weist eine lange Geschichte als wichtige Handelsroute unter anderem für Getreide auf. Jedoch war das Donaudelta bis in das 19. Jahrhundert hinein für Schiffe – nicht zuletzt wegen ihrer Untiefen und des sich ablagernden Schlamms – gefährlich. Als 1856 die Europäische Donaukommission mit dem Ziel gegründet wurde, die Infrastruktur des Donaudeltas auszubauen, wurde auch die Schlangeninsel in die Pläne der Kommission einbezogen. Auf ihr befand sich ein Leuchtturm, der wichtig für die Flussnavigation und somit die Sicherheit der Schifffahrt und des wertvollen Transportgutes war.[3]
Das Delta gehört heute zu Rumänien und grenzt nördlich an die Ukraine, war zum Zeitpunkt der Gründung der Kommission jedoch gerade osmanisches Gebiet geworden, nachdem es zuvor einige Jahre zum Russischen Kaiserreich gehörte bzw. von diesem annektiert worden war. Die Machtverhältnisse in der Region änderten sich nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 abermals: Das Donaudelta inklusive der Schlangeninsel wurden im Zuge des Berliner Kongresses von 1878 dem Fürstentum Rumänien zugesprochen. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde trotz Kriegen und territorialer Neuordnung die Hoheit über die Schlangeninsel nicht weiter thematisiert. Dass sie rumänisches Gebiet war, zweifelte offenbar niemand an.
Wem gehört die Schlangeninsel?
Dennoch ist die Insel heute Teil der Ukraine und nicht Rumäniens. 1948 trat Rumänien die Insel an die Sowjetunion ab, woraufhin sie umgehend zu einem militärischen Stützpunkt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik wurde. Als die Ukraine im Jahr 1991 mit einem Referendum ihre Unabhängigkeit verkündete, wurde die Schlangeninsel automatisch Teil dieses neuen Staates.
Die Gründung der Ukraine sorgte für Konflikte bei der Frage nach der Grenzziehung. Rumänien bemängelte die scheinbar undurchsichtigen Bedingungen, unter denen die Insel damals abgetreten worden war. Die Schlangeninsel wurde zu einem Streitpunkt zwischen den beiden postsozialistischen Staaten. Genauso führten auch Dispute über die historischen Regionen Bukowina und Bessarabien zu Spannungen, da sie, ebenso wie die Insel, die Frage nach den Staatsgrenzen betrafen. Beide Regionen hatten bis Ende des Zweiten Weltkriegs einen stetigen Herrschaftswechsel erlebt und waren teil- und zeitweise auch rumänisches Gebiet gewesen, bevor sie zu sowjetischem Territorium wurden. Die Streitigkeiten zwischen Rumänien und der Ukraine wurden 1997 in einem Freundschaftsvertrag beigelegt und die gegenseitigen Grenzen akzeptiert. Beide Seiten gingen eine Verpflichtung ein, keine Ansprüche auf die Territorien des jeweils anderen Staates zu stellen.[4] Dieses Abkommen betraf allerdings nicht die Schlangeninsel.
Ihr Verlust war für Rumänien vor allem mit Blick auf den vermuteten Ressourcenreichtum rund um die Insel schwierig. Daher war die Frage nach einem für beide Staaten akzeptablen Grenzverlauf so wichtig, denn mit einer günstigen Korrektur der Grenzen konnten theoretisch mehr Ressourcen beansprucht werden. Da Rumänien und die Ukraine diesen Streitpunkt nicht bilateral klären konnten, zogen sie vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.[5] Auf Hunderten von Seiten legten sie ihre Positionen dar. Letztlich entschied der Internationale Gerichtshof, dass die Seegrenzen neu gezogen werden müssen. Zugleich unterstrich das Gerichtsurteil die Zugehörigkeit der Schlangeninsel zur Ukraine, sehr zu Bedauern rumänischer Gruppen, die von einer Korrektur geträumt hatten. Ein rumänischer Artikel bezeichnete 2015 die Insel als Rumäniens »offene Wunde«.[6]
Erinnerungskultur in Echtzeit
War die Schlangeninsel allgegenwärtig in den rumänischen Medien, so ist sie heute zu einem hochaufgeladenen Erinnerungsort mit internationaler Resonanz avanciert. Sie ist heute der Ort, an dem die Ukraine Russland die Stirn bot. Der besagte, wohl aus tiefstem Herzen kommende vulgäre Ausdruck hat eine weite Verbreitung erfahren, in den sozialen Medien so sehr wie auf T-Shirts und anderen Merchandise-Artikeln. Vor allem aber ist er zu einem so national definierten wie international rezipierten Erinnerungsort der Ukraine geworden. Dies spiegelt sich auch in der Briefmarke,[7] die die ukrainische Post dem Ausspruch samt den auf der Insel stationierten Soldaten rund zwei Monate nach Beginn der Invasion gewidmet hat. Sie zeigt eine kolorierte Zeichnung aus der Perspektive der Insel, auf der ein ukrainischer Soldat aufrecht stehend seinen Mittelfinger in Richtung des russischen Kriegsschiffes am Horizont richtet. Einen Tag nach der Ankündigung dieser Briefmarke erschienen Berichte, dass die Moskwa gesunken sei.
Ob nun für Rumänien als »offene Wunde« oder als international präsenter Ort des ukrainischen Widerstands: Die Schlangeninsel ist in jedem Fall ein eindrückliches Beispiel dafür, dass in Konflikten mit verheerenden globalen Auswirkungen selbst einem winzigen Flecken Land eine so strategisch wie identitätsrelevante Schlüsselrolle zufallen kann.
Anmerkungen
[1] Der »Whisky-Krieg« ist vorbei, in: Süddeutsche Zeitung, 15.06.2022, https://www.sueddeutsche.de/politik/hans-insel-daenemark-kanada-groenland-1.5603297 [05.09.2023].
[2] Schlangeninsel: Ukraine-Flagge weht wieder, 07.07.2022, https://www.t-online.de/tv/nachrichten/politik/id_92352180/ [05.09.2023].
[3] Constantin Ardeleanu: The European Commission of the Danube, 1856–1948. An Experiment in International Administration, Leiden 2020.
[4] Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, 5. Aufl., München 2019.
[5] International Court of Justice: Maritime Delimitation in the Black Sea (Romania v. Ukraine), https://www.icj-cij.org/en/case/132 [05.09.2023].
[6] Mariana Iancu: Insula Şerpilor, rana deschisă a României, de la stăpânirea bizantină la cea a »Sublimei Porţi«. Detalii din culisele faimosului proces de la Haga [Die Schlangeninsel, Rumäniens offene Wunde, von der byzantinischen Herrschaft bis zur »Hohen Pforte«. Hinter den Kulissen des berühmten Haager Prozesses], Konstanza, in: Adevărul, 09.04.2015, https://adevarul.ro/locale/constanta/insula-Serpilor-rana-deschisa-romaniei-stapanirea-bizantina-la-cea-sublimei-porti-detalii-culisele-faimosului-proces-haga-1_55254989448e03c0fd5e5d2f/index.html [05.09.2023].
[7] On 12.04.2022 Ukrposhta issues postage stamps »Russian warship, go …!«, Ukrposhta, 11.04.2022, https://www.ukrposhta.ua/en/news/57618-on-12042022-ukrposhta-issues-postage-stamps-russian-warship-go- [05.09.2023].