»Alles hat sich verdichtet« – Kriegsbilder aus der Ukraine

Ein Interview mit Michael Pfister und Andreas Prost aus der Bildredaktion von »Zeit Online«

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Ein junges Paar steht eng beieinander in einem Wohnzimmer; im Hintergrund gepackte Tüten und eine zweite junge Frau mit Handy

Screenshot Zeit Online [01.08.2022], „Zu Hause ist Krieg“, 5. März 2022. Foto: Anna Tiessen
für ZEIT ONLINE © https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-03/ukraine-flucht-krieg-fluechtlingshilfe-frankfurt-dorohusk

Visual History, 1. August 2022

 

Christine Bartlitz: Am 24. Februar 2022 wurde die Ukraine von Russland überfallen. Seitdem sehen wir Tag für Tag in den Medien verstörende Bilder dieses Krieges. Wie hat sich Ihre Arbeit in der Bildredaktion von Zeit Online in den letzten Wochen verändert? Welche Herausforderungen sind auf Sie zugekommen?

Michael Pfister: Es war und ist eine sehr intensive Zeit. Das ist nicht der erste Krieg, den ich als Fotoredakteur begleite, ich habe 2008 schon über Georgien berichtet. Ich war jedoch aktuell überrascht, wie schnell sich alles verdichtet hat.

 

Andreas Prost: Natürlich gab es andere Kriege und Konflikte, an die wir uns alle noch erinnern. In der Ukraine ist es letztlich ein fortwährender Konflikt mit dem Maidan als substanziellem Teil davon. Aktuell gab es seit dem 24. Februar das Bedürfnis und die Erwartung an uns, nahe dran zu sein an den Kriegsereignissen. Wir haben bei Zeit Online ja verschiedene Formate, in denen wir Journalismus betreiben. Für unsere Live-Berichterstattung ist der Krieg gegen die Ukraine schon eine Herausforderung. Wir haben seit dem 24. Februar anfangs 24 Stunden am Tag den Live-Blog betreut. Das gab es in der Redaktion in dieser Dimension noch nie.

 

Sie haben in Schichten gearbeitet?

Andreas Prost: Ja, tatsächlich. Wir sind ja digital sowieso ein 24-Stunden-Medium. Deshalb ist immer jemand da, der oder die bei uns Journalismus rund um die Uhr betreibt. Aber momentan ist das nochmals eine ganz neue Situation – ja, wie Michael schon gesagt hat: Alles hat sich verdichtet. Das zeigt sich auf ganz vielen Ebenen: in der aktuellen Berichterstattung, bei der Zusammenarbeit mit den Fotograf:innen vor Ort, in der Auswahl und Einschätzung des Materials, das wir von den Nachrichtenagenturen erhalten etc.

 

Michael Pfister: Ich habe eben überprüft, wie viele Fotos zum Thema Ukraine in den letzten 24 Stunden von den Nachrichtenagenturen Reuters, Getty Images und AFP sowie von dpa an uns geliefert worden sind: insgesamt 1366 Fotos. Darunter sind auch Bilder, die nicht direkt das Kriegsgeschehen darstellen: Friedensdemonstrationen zum Beispiel in Berlin werden auch unter dem Thema Ukraine verschlagwortet.

Als Nachrichtenwebsite sind wir 24 Stunden lang in dem Live-Blog in Nachrichtenartikeln, in Analysen und Kommentaren, in Reportagen, in Fotostrecken auf Bilder angewiesen. Das bedeutet, dass wir uns aus dem Material der genannten Fotoagenturen bedienen. Diese Quellen durchlaufen auch Faktencheck-Prozesse; wir können also sicher sein, dass das Material, das wir von den Agenturen beziehen, vertrauenswürdig ist. Wenn zu einem Artikel, Kommentar oder einer Analyse spezifisches Bildmaterial von den Autor:innen gewünscht wird, dann weiten wir unsere Quellen auf spezialisierte Fotoreportage-Agenturen wie Magnum oder Panos aus. Dadurch erhalten wir auch exklusives Material.

In den Nachtschichten ist es immer wieder vorgekommen, dass die Nachrichtenredakteur:innen auf Bilder verwiesen haben, die in den Social Media-Kanälen kursierten. Aber wir konnten das Material nicht bringen, weil mitten in der Nacht kein Faktencheck möglich war. Wenn wir von freien Fotograf:innen Angebote bekommen, sind für uns folgende Fragen wichtig: Kennen wir diese Person? Haben wir schon mal mit ihr zusammengearbeitet? Für wen hat sie bisher gearbeitet?

 

Anhand welcher Kriterien suchen Sie die Bilder aus – auch unter ethischen Gesichtspunkten? Wie laufen die Auswahlprozesse ab?

Andreas Prost: Ethische Kriterien entscheiden letztlich, welche Bilder wir zeigen und welche nicht. Zuvor prüfen wir, ob diese Fotografie eine Geschichte erzählt, die möglichst nah an dem ist, was vor Ort tatsächlich passiert – und wie vertrauenswürdig und valide der Urheber / die Urheberin ist. Wir kennen Fotograf:innen, die sehr viel Erfahrung in Kriegsgebieten haben. Da gibt es ein Grundverständnis auf beiden Seiten, was qualitativ hochwertige fotojournalistische Arbeit ausmacht. Auf sie verlassen wir uns mehr als auf Fotograf:innen, die wir nicht kennen. Zu unserer Arbeit gehört auch, auf die einzelnen Bilder zu schauen und zu fragen: Was sehen wir eigentlich auf dieser Fotografie? Ist es nur ein Ausschnitt oder gibt es eine ganze Serie von Bildern, die mir verständlich machen, welches Ausmaß das Dargestellte hat?

Wenn wir uns nicht ganz sicher hinsichtlich der Quelle sind, und das kam zu Beginn des Krieges häufiger vor, entscheiden wir uns gegen die Veröffentlichung. Darüber hinaus versuchen wir, bestimmte Bilder zu verifizieren. Bei dem Material renommierter Fotojournalist:innen, das über die Agenturen kommt, gehe ich erst einmal davon aus, dass die Angaben stimmen. Aber wenn beispielsweise auf dem Foto Schnee zu sehen ist, obwohl es zu diesem Zeitpunkt in der Region keinen Schnee gegeben hat, dann ist das natürlich auch ein Kriterium, warum ein Bild abgelehnt wird. Es ist eine »Mosaikarbeit«, herauszufinden, welche Bilder wir verwenden können.

 

Diese Verifizierungs-Arbeit muss wahrscheinlich in hohem Maße jetzt zusätzlich von der Bildredaktion geleistet werden. Ich bin vor einigen Tagen auf ein gefälschtes Selenskyj-Video im Netz gestoßen.

Michael Pfister: Das macht ja unsere tägliche Arbeit aus: die Auswahl und die Prüfung. Wir erhalten in der Bildredaktion zum Beispiel eine Bestellung für einen neuen Artikel. Zuerst recherchieren wir zu dem Thema bei den Agenturen und weiten dann jeweils den Fokus auf andere Quellen oder auch geografisch. Wenn es keine Bilder aus dem Ort gibt, dann vielleicht aus der Region. Von anderen Schauplätzen dieses Krieges gibt es relativ viel Bildmaterial – darunter sehr bedrückende Fotos wie zum Beispiel aus Irpin, wo die Menschen wochenlang über diesen Holzsteg gehen mussten, um den Fluss nach der Zerstörung der Brücke zu überqueren. Abhängig davon, wann der oder die Fotograf:in vor Ort war, welche Perspektive er oder sie eingenommen hat und wie dramatisch die Situation in diesem Moment war, lesen wir die Bilder.

 

Genau, aus Irpin stammt ja auch das Bild von Lynsey Addario, das die New York Times groß auf dem Titel gebracht hat. Zeit Online ist ein digitales Medium. Wie arbeiten Sie mit der Bildredaktion der analogen ZEIT zusammen? Gibt es Unterschiede in Ihrer alltäglichen Arbeit vor Ort oder auch in der Auswahl der Bilder?

Andreas Prost: Wir arbeiten schon immer eng zusammen, haben die gemeinsame Arbeit in den vergangenen Wochen aber noch vertieft, was die Produktion in der Print- und Onlineausgabe angeht. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Printredaktion vielleicht stärker auf das einzelne Bild schaut als wir. In der Wochenzeitung ist der Platz begrenzt, wohingegen wir in den digitalen Formaten sehr viel mehr Möglichkeiten haben. Damit einher geht aber auch ein sehr großer »Hunger« nach Bildern: Im Live-Blog bringen wir teilweise im Zehn-Minuten-Takt neue Bilder der Kriegshandlungen, die Kolleg:innen im Print brauchen letztlich eine einzige starke Fotografie.

 

Ihr Live-Blog bringt mich zu Social Media. Wie schätzen Sie deren Bedeutung ein, gerade aus Ihrer Perspektive als Journalist:innen der ZEIT?

Andreas Prost: Mit Social Media hat sich insbesondere die Erwartungshaltung verändert. Instagram und andere Portale vermitteln den Eindruck, dass die Leute immer ganz nah dran sind und valide Informationen liefern. Da haben wir als Journalist:innen eine große Verantwortung, indem wir das, was wir zeigen, auch einordnen. Dieses »Nebeneinander« von unterschiedlichen Quellen und Inhalten habe ich vor allem in den ersten zwei Kriegswochen teilweise als schwierig erlebt. Mir scheint, dass einige Leute mit relativ großer Social Media-Präsenz teilweise überfordert waren und unreflektiert Bilder gepostet haben – insbesondere in Hinblick auf Graphic Content, also verstörende Bilder von Getöteten und Verletzten. Da sehe ich uns in der Pflicht, dass wir Bilder auswählen, die valide sind und im Einklang mit unseren ethischen und journalistischen Standards verwendet werden. Das betrifft zum Beispiel tote oder sterbende Menschen. Die zeigen wir nicht so, dass ihre Gesichter erkennbar sind. Andererseits konsumieren die Leute viele Bilder auf Social Media und erwarten sie dann auch bei uns. Da kann sich Druck aufbauen, häufig mehr Bilder zu zeigen, als wir es vielleicht tun sollten.

Michael Pfister: Genau, bei Social Media gibt es jetzt Millionen von publizierenden Menschen, die plötzlich die Funktion von Medien haben. Der Fotograf, der in Kiew ist, wird mit seinen Bildern aktuell zum Medium. Er kann das publizieren, was er am Tag fotografiert hat. Unsere Aufgabe als Bildredakteur:innen im journalistischen Kontext ist es, Bilder zu sichten, zu editieren, auszuwählen und dann zu publizieren. Ein wichtiger Faktor ist die Schnelligkeit, mit der sich die Bilder über Social Media verbreiten. Ich muss nicht mehr auf die Nachrichten um 20 Uhr im Fernsehen warten, um diese Bilder zu sehen, sondern kann sie jederzeit konsumieren.

In diesem Krieg haben wir zudem erfahren, dass Satellitenbilder nicht nur von Geheimdiensten genutzt werden, sondern auch von Nachrichtenagenturen. Das verändert natürlich die Perspektive, aus der wir das Kriegsgeschehen sehen. Auch das Ausmaß der Zerstörung wird dadurch sichtbar. Dabei zeigt sich auch eine Parallelität: beispielsweise von Augenzeugenberichten von Krankenhausmitarbeiter:innen vor Ort und den Satellitenbildern mit diesem »Blick von oben«.

 

(Kunst-)Historiker wie Gerhard Paul und Horst Bredekamp gehen davon aus, dass Bilder nicht nur Kriege abbilden, sondern auch eine generative Kraft sind und Geschichte selbst mit erzeugen. Ich würde gerne Ihre Einschätzung erfahren – Sie haben den Georgien-Krieg von 2008 erwähnt –, inwieweit Sie diesen Krieg von den Bildern her als anders einschätzen. Haben die Bilder aktuell eine neue »Macht«? Oder nehmen wir den Konflikt (visuell) anders wahr, weil er nur gut 1000 Kilometer entfernt von uns stattfindet?

Michael Pfister: Wir konsumieren jeden Tag – mit oder ohne Krieg – immer mehr Bilder, sowohl als professionelle Journalist:innen oder Bildredakteur:innen wie auch allgemein. Die Situation hat sich durch die technologische Verfügbarkeit drastisch verändert: Jede Person kann von jedem Ort live senden und Bilder übermitteln. Das fotografische Bild wurde vom Bewegtbild überholt, das mit der Handykamera aufgenommen und anschließend über Social Media geteilt wird. Und in den letzten Wochen ist deutlich geworden, dass in Zeitungen, Nachrichtenmagazinen, Online-Zeitungen sowie jeden Tag im öffentlich-rechtlichen wie im privaten Fernsehen auch immer mehr Bilder gebraucht werden. Wenn es keine Expert:innen gibt, die befragt werden, dann braucht es möglichst viele Bilder.

Andreas Prost: Der historische Vergleich mit anderen Kriegen und Konflikten ist gefährlich und funktioniert meistens nicht. Aber in diesem Konflikt ist die Anzahl der Menschen, die aktuell in der Ukraine vor Ort sind und dokumentieren, was dort passiert, besonders hervorzuheben. Unabhängig von der Frage, ob wir die Bilder dann veröffentlichen, ist es ungemein wichtig, dass eine Lynsey Addario dort in Irpin war und dokumentiert hat, was mit Zivilist:innen geschehen ist: Sie sind vor ihren Augen erschossen worden.

Natürlich haben Bilder eine aufrührerische Wirkung. Sie können auch während eines Krieges viel verändern – und haben es auch in der Vergangenheit schon getan. Teilweise liegt auch Hoffnung darin, dass sie es tun werden … Allerdings stellt sich dabei immer die Frage, wie tote Menschen gezeigt werden, ob sie auf den Fotos erkennbar sind. Eine ähnliche Diskussion löste das Bild des ertrunkenen Alan Kurdi 2015 an der türkischen Mittelmeerküste aus. Wir haben uns damals gefragt, ob wir dieses Bild zeigen sollen. Verbunden war damit vielleicht auch die Hoffnung, mit dem Foto so viel Aufmerksamkeit zu erzeugen, um die Bedingungen der Flucht übers Mittelmeer zu ändern – die Hoffnung hat sich leider nicht erfüllt, obwohl sich auch hier die Wirkmacht des Bildes nur schwer messen lässt.

Wir sind uns als Bildredakteur:innen darüber bewusst, was ein einzelnes Bild in politischen oder gesellschaftlichen Kontexten auslösen kann. Da tragen wir eine Verantwortung und sollten uns jeweils fragen: Ist es nötig, dieses Bild zu zeigen? Respektieren wir damit alle Bedürfnisse sowie unsere ethischen Standards?

 

Haben Sie auch persönliche Erfahrungen mit Kriegsfotografie?

Michael Pfister: Als ich begonnen habe, mich mit Fotografie und insbesondere mit Kriegsfotografie auseinanderzusetzen, habe ich vor allem die Arbeiten von James Nachtwey in Reportagen, Fotobüchern oder Ausstellungen studiert. Später gab es eine enge Zusammenarbeit mit dem Fotografen Christoph Bangert, da ich seine Bilder aus Afghanistan und dem Irak bei einer Agentur editiert habe. In den Kriegen in Afghanistan, im Irak oder auch in Syrien waren die Fotojournalist:innen meistens embedded. Der Zugang zu einem Kriegsgebiet unterliegt dem Militär, das diesen Zugang gewährt. Christoph Bangert war bis zu drei Monate in Bagdad für die New York Times. Jetzt in der Ukraine ist CNN in der ersten Kriegswoche wohl mit 75 Leuten vor Ort gewesen. Man muss sich einmal vorstellen, was das alles auch logistisch von der Infrastruktur her bedeutet. Außerdem haben internationale Medieninstitutionen verschiedene Teams, die sich gegenseitig ablösen. Dabei wird deutlich, dass hier nicht mehr der einzelne Fotograf / die Fotografin versucht, die Geschehnisse einzufangen. Stattdessen sind es riesige Apparate, die die Geschehnisse dokumentieren. Je größer die Institution – wie etwa die BBC, CNN oder die New York Times –, desto eher können sie auf eine lange Historie zurückgreifen, weil diese Assessments immer neu adaptiert und angepasst werden.

 

Eine letzte Frage: Was für Strategien haben Sie persönlich, um mit diesen Bildern, mit dem Grauen, das sie zeigen, umzugehen?

Andreas Prost: Wir hatten kürzlich in der Bildredaktion einen Termin mit einer Trauma-Expertin. Dabei haben wir unsere tägliche Arbeit stärker reflektiert und auch einzelne Strategien besprochen.

Michael Pfister: Das ist eine gute Frage und ein sehr wichtiger Aspekt der Arbeit in der Bildredaktion. Ich versuche, mich nach der Arbeit körperlich zu betätigen, um einen Ausgleich zu schaffen. Einerseits ist es hilfreich, darüber zu reden, auch im Team mit Kolleg:innen und Fotograf:innen, denen es ähnlich geht und die sich in der gleichen Intensität mit den Bildern beschäftigen. Andererseits ist es manchmal auch wichtig, diesen Input zu stoppen und rauszugehen, zu joggen etc. Ich bin darüber hinaus Mitglied im Dart Center for Journalism and Trauma (https://dartcenter.org/). Man muss nach einer gewissen Zeit Pausen einlegen, um danach weiter funktionieren zu können.

 

Ich danke Ihnen für das Gespräch.

 

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