Vermeintliche Völkerfreundschaft

Fotografie und Hierarchie sowjetischer Nationen in der Zwischenkriegszeit

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Saal eines Museums

Ein Saal im Nationalmuseum (ehemals Lenin-Museum) in Bischkek, geschmückt mit den
Flaggen der Sowjetrepubliken. Einige Vasen mit Porträts von W.I. Lenin stehen auf einem
kleinen Podest in der Mitte des Saals. Foto: Vmenkov, 01.09.2007.
Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0

14. Juni 2023

 

Russlands Krieg gegen die Ukraine enthüllte nicht nur den imperialen Großmachtanspruch herrschender Eliten in Russland, sondern auch ein generelles kulturelles Überlegenheitsgefühl gegenüber Ukrainer:innen. Darüber hinaus beklagen immer wieder Stimmen aus Kasachstan, Georgien und Usbekistan den kolonialistischen Habitus einiger geflüchteter Russ:innen. Diese Einstellungen haben ihre Wurzeln im russländischen Imperium, denn die Revolution und Gründung der Sowjetunion brachen nur bedingt mit dem imperialen Erbe des Zarenreiches. Spätestens seit den 1930er Jahren stand, nach einigem nationalpolitischen Hin- und Her, das russische Volk auch in öffentlichen Diskursen an der Spitze der sowjetischen Völker.[1] In einem kurzen, aber besonders repräsentativen Beispiel möchte ich zeigen, wie in der Zwischenkriegszeit diese Hierarchisierung durch öffentlich publizierte Fotografien suggestiv vermittelt wurde. Diese Bilder wirkten, wie die formativen Jahre der Sowjetunion selbst, bis weit über den Zusammenbruch des sozialistischen Systems hinaus.

Insbesondere damals spielten neue Medien eine wesentliche Rolle in der sowjetischen Propaganda. Am eindrucksvollsten waren sicherlich Filmvorführungen. Und doch wirkten Fotografien, die seit 1924 in der Tagespresse und in den allseits beliebten Illustrierten veröffentlicht wurden, suggestiver und damit nachhaltiger. So ist das Anschauen eines Films ein bewusster Akt, der durch das Betreten des Abspielraums eingeleitet und durch sein Verlassen beendet wird. Die Rezeption fotografischer Bilder wurde hingegen schon bald beiläufig und »normal«. Diese Bilder wurden außerhalb von Fachzirkeln wenig hinterfragt und diskutiert, sie wurden zum Alltagsphänomen.[2]

Für die sowjetische Presse war es eine Herausforderung, eine Bildsprache für die visuelle Eingliederung der zentralasiatischen Republiken in die sowjetische »Vielvölkerfamilie« zu finden. Zum einen musste die sowjetische »Modernisierungsleistung« gezeigt werden, um die sozialistische Herrschaft als ernsthafte Alternative zu früheren wie konkurrierenden Staatsformen zu legitimieren. Andererseits sollte klar erkennbar sein, dass es sich nicht um einen europäischen Raum handelte. Es galt, die Leistung eines sozialistischen Staates herauszustellen, der seine nichteuropäischen Peripherien vom »Zarenjoch befreit« hatte und unter dem Banner des Antiimperialismus ihre Kulturen förderte, sie zugleich aber weiter, bestimmten Vorstellungen folgend, »zivilisieren« wollte.

Als Resultat kehrten orientalistische, die vermeintliche Rückständigkeit asiatischer Gruppen akzentuierende Bilder in die Presse zurück, obwohl der moderne Fotojournalismus diese – imperialen Selbstversicherungsdiskursen folgenden – Repräsentationen eigentlich schon um die Jahrhundertwende obsolet gemacht hatte. Nun sahen auch Personengruppen, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch nicht zum Lesekreis von illustrierten Zeitungen gehört hatten, Fotografien von Kamelen, Turbanen und lokalen Holzkutschen. Die Veröffentlichung dieser Fotografien suggerierte bereits, dass die sowjetische Moderne, trotz ihrer vehementen Kritik am russischen Imperium nicht alle Bevölkerungsteile gleich darstellte: Denn auch wenn das russische Dorf dieser Zeit aus Baracken bestand, kein fließendes Wasser und schon gar keine geteerten Straßen hatte, sah man solche Bilder in den großen sowjetischen Illustrierten nicht; schon gar nicht in den Zeitungen der Republiken Zentralasiens, die das sowjetische Russland von seiner prächtigsten und urbansten Seite zeigten.

Mit der Vollendung des ersten Fünfjahresplans im Jahr 1932 begann die fotografische Hierarchisierung der sowjetischen Völker in der sowjetischen Presse und hatte ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre.[3] Die Repräsentation des Lebens in der Sowjetunion stand zu dieser Zeit unter der Prämisse des Sozialistischen Realismus – dieser projizierte Selbst- und Zukunftsvisionen in die Gegenwart, die aber oftmals komplett konträr zur Lebensrealität der Menschen in der Sowjetunion standen. Auch Stalins allumfassende Formel, die Republiken sollten »national in der Form, sozialistisch im Inhalt« sein, bedeutete nicht, dass alle Völker und Republiken auf dieselbe Art und Weise »sozialistisch« waren. Denn die Definition des »Sozialistischen« war für jede Nation anders: Statt auf wirkliche Gleichheit ausgerichtet zu sein, wurde jeder Nation nur ein bestimmter und stark begrenzter Entwicklungshorizont innerhalb der sozialistischen Moderne zugesprochen.

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Frauen marschieren

Tatjana aus Russland, Evgenija aus der Ukraine und Chasija aus
Kasachstan, in: Maks Al’pert/Nikolai Trošin, UdSSR im Bau,
Nr. 8/1939, Die Frau in der Sowjetunion

Besonders gut verdeutlicht das die Ausgabe »Die Frau in der Sowjetunion« der Hochglanzillustrierten UdSSR im Bau aus dem Jahr 1939.[4] Darin stellten der Fotograf Maks Al’pert und der Buchkünstler Nikolai Trošin in der Form eines Foto-Essays das idealtypische Leben einer Ukrainerin, einer Kasachin und einer Russin dar. Die Frauen dienen als Personifikationen ihrer jeweiligen Republik, wobei der Fotoessay den gesamten Kanon der sowjetischen Bilderwelt abdeckt.

Zu Beginn des Foto-Essays lernen wir Tatjana aus Russland, Evgenija aus der Ukraine und Chasija aus Kasachstan kennen. Alle drei sind im Revolutionsjahr 1917 geboren worden und teilen sich nun ein Zimmer in einem Moskauer Studentinnenwohnheim. Wir sehen die jungen Frauen das Moskauer Stadtleben genießen und begleiten anschließend Evgenija und Chasija in ihre Herkunftsorte. Nur Tatjana, die eigentlich aus der zentralrussischen Stadt Kolomna stammt, bleibt in Moskau. Tatjanas Erzählstrang verkörpert idealtypisch die sowjetische Moderne und ist die progressivste Version der »Neuen sowjetischen Frau«: Sie ist Ingenieurin, hat an Moskaus besten Hochschulen studiert, hat eine Führungsposition in der Armee, ist gebildet, belesen, ist wenig interessiert an traditionellen, bürgerlichen Familienformen und natürlich auch Leistungssportlerin. Tatjana fährt Auto und führt auch sonst ein modernes urbanes Leben mit Kultur, Partys und wechselnder männlicher Begleitung.

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Männer und Frauen tanzen

Tatjana aus Russland lebt ein modernes urbanes Leben, in:
Maks Al’pert/Nikolai Trošin, UdSSR im Bau, Nr. 8/1939, Die Frau in der Sowjetunion

Während die Russin Tatjana unhinterfragt die sowjetische Form eines modernen Lebens verkörpert, braucht Evgenija aus der Ukraine bereits eine Legitimation für ihren Aufenthalt in Moskau: Als Landwirtschaftskorrespondentin der Zeitschrift Die Bäuerin erhielt sie ein Studienstipendium. In Moskau angekommen, strotzt sie vor Dankbarkeit darüber, dass sie hier nun forschen und Englisch lernen darf. Nach der Rückkehr in ihre ukrainischen Kolchose gibt sie verantwortungsbewusst das neuerworbene Wissen weiter, damit die Produktivität stets steigt. Ihre Bilderwelt entspricht den typischen landwirtschaftlichen Szenen des Sozialistischen Realismus: Lange, reich gedeckte Tafeln im Freien, fröhliche Menschen und gesunde Tiere.

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Zwei Frauen lachen

Das Leben von Evgenija aus der Ukraine bewegt sich ausschließlich
im Rahmen der Kolchose, in: Maks Al’pert/Nikolai Trošin, UdSSR im Bau,
Nr. 8/1939, Die Frau in der Sowjetunion

Während Tatjana in einem geschmückten Ballsaal mit einem Partner einen Gesellschaftstanz ausübt, führt Evgenija Volkstänze auf. Ihr Leben bewegt sich einzig und allein im Rahmen der Kolchose, die ausschließlich aus einer technischen Perspektive modern ist, weil sie Traktoren hat. Aber die kulturelle Moderne, wie Tatjana sie lebt, ist hier durch Folklore ersetzt und damit der vermeintlich universellen russischen unterlegen. Während die sozialistische Moderne Tatjanas sich kaum von dem Lebensstandard im Westen unterscheidet, hat Evgenijas Entwicklung und damit auch die der Ukraine ihren Höhepunkt in der idealen Kolchose erreicht. Diese Moderne mit Abstrichen zeigt eine Hierarchisierung zwischen dem Russischen und dem Ukrainischen, die ihre Wurzeln schon im 19. Jahrhundert hat. Das Bild des rückständigen, ungebildeten ukrainischen Bauern diente der Distinktion russischer, der europäischen Kultur angehörenden, sprich: zivilisierteren Städter; im selben Zuge wurde etwa dem Ukrainischen als vermeintlicher Bauernsprache die Eigenständigkeit als Kultursprache abgesprochen.

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Männer und Frauen spielen Theater

Nach ihrer Rückkehr nach Kasachstan führt Chasija dem Dichter
Zhambyl Zhabaev das Theaterstück »Der Diener zweier Herren« von
Carlo Goldoni vor. Maks Al’pert/Nikolai Trošin, UdSSR im Bau, Nr. 8/1939,
Die Frau in der Sowjetunion

Die Deutung von Chasijas Fall ist komplexer. Wie in allen zentralasiatischen Republiken dient das Narrativ der »Befreiung der unterdrückten Frau« als Parabel für die sowjetische Nationalitätenpolitik, sodass bereits die Darstellung einer zentralasiatischen Frau ohne Schleier ihre Emanzipation repräsentiert. Dieses Leitmotiv bestimmt auch Chasijas Erzählung. Sie stammt aus der kasachischen Steppe und studiert in Moskau Schauspiel; auch wenn der erstaunte Erzähler sich ausdrücklich nicht erklären kann, woher der Wunsch stammt, da sie in Kasachstan ja sicherlich niemals ein Theater zu Gesicht bekommen habe. Neben dem Schauspielunterricht besucht sie Moskaus kulturelle Einrichtungen – der Höhepunkt für Chasija ist der Besuch des Bolschoi-Theaters, wo sie vollendete Theaterkunst vorfindet. Was bei Tatjana zum Alltag gehört, ist bei Chasija Teil eines zivilisatorischen Aufstiegsprozesses.

Gleichzeitig wird das europäische Theater zu einer universellen Norm in der Hochkultur. Denn zurück in der Steppe führt sie dem kasachisch-sowjetischen Volksdichter Zhambyl Zhabaev, einem seinerzeit berühmten Kasachen, das Stück »Der Diener zweier Herren« von Carlo Goldoni vor, wofür sie sich in ein klassisches barockes Kostüm wirft.

Allerdings neigten sowjetische Fotografen aus Moskau auch dazu, die Repräsentation des sowjetisch-modernen Zentralasiens stets ein wenig zu übertreiben. Denn Chasija ist nicht nur die erste Schauspielerin Kasachstans, sondern will auch Pilotin werden – und als sie zum ersten Mal die Fliegertracht anzieht, denkt sie an keine andere als Tatjana, nicht nur als Freundin, sondern als Vorbild.

Das selbsterklärte Ziel dieser Bildgeschichte ist es, zu demonstrieren, dass die sowjetische Frau emanzipiert und rechtlich sowie kulturell den Männern gleichgestellt ist. Was dabei jedoch auch erkennbar wird, sind die nationalen Hierarchien in der Sowjetunion. Die Hierarchisierung wird bereits bei der Benennung der Frauen in den Bildtexten deutlich: Tatjana Pyzhova wird stets mit ihrem Nachnamen benannt und damit als mündige Erwachsene behandelt, während Chasija Kamardinova und Evgenija Adamenko mit ihrem Vornamen bzw. davon abgeleiteten Rufnamen benannt werden. Auch die Auswahl der Republiken, aus denen die Frauen stammen, regt zum Nachdenken an. Denn nur wenige Jahre vor dem Erscheinen dieses glorifizierenden Heftes waren Kasachstan und die Ukraine am stärksten von der sowjetischen Hungersnot betroffen, die Millionen Opfer forderte und heute – zumindest in der Ukraine – als Genozid gilt.[5]

Diese Geschichte ist nur ein Beispiel unter vielen anderen Bildern, die in ihrer Summe die Repräsentationen der unterschiedlichen Ethnien in der Sowjetunion prägten und deren Suggestivkraft nicht stark genug eingeschätzt werden kann. Die russische kulturelle Moderne war höchste Lebensform in der Sowjetunion, die anzustreben sei, aber aufgrund der abgesteckten folkloristischen Handlungsräume nie erreicht werden konnte. In Russland fand nie eine kritische Auseinandersetzung mit derartigen Repräsentationen statt, weder vor noch nach dem Zerfall des Sowjetreiches.

 

Anmerkungen

[1] Die sowjetische Nationalitätenpolitik ist ein kontroverses Forschungsfeld, das noch lange nicht erschöpft ist. Für eine reflektierte Diskussion vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine siehe den Beitrag von Moritz Florin: Zentralasien und die Dekolonisierung der Osteuropaforschung, in: zeitgeschichte | online, 21.04.2022, https://zeitgeschichte-online.de/themen/zentralasien-und-die-dekolonisierung-der-osteuropaforschung [05.09.2023].

[2] Zur Geschichte der frühen sowjetischen Pressefotografie vgl. David Shneer: Through Soviet Jewish Eyes. Photography, War, and the Holocaust, New Brunswick 2010.

[3] Vgl. zum Verhältnis von Fotografie und Nationalitätenpolitik Timothy Nunan, Soviet Nationalities Policy, USSR in Construction, and Soviet Documentary Photography in Comparative Context, 1931–1937, in: Ab Imperio (2010) 2, 47–92 und Helena Holzberger: National in front of the Camera, Soviet behind it. Central Asia in Press Photography, 1925–1937, in: Journal of Modern European History 16 (2018) 4, 487–508.

[4] Zu Gestalt und Lesekreis: Erika Wolf: When Photographs Speak, To Whom Do They Talk? The Origins and Audience of SSSR na stroike (USSR in Construction), in: Left History 6 (1999) 2, 53–82.

[5] Zur Hungersnot in der Ukraine siehe Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2019; in Kasachstan siehe Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg 2014. Der Bundestag hat am 30. November 2022 die Hungersnot in der Ukraine als Genozid eingeordnet.

 

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