Journalismus in Kriegszeiten

Stefan Günther vom Journalisten-Netzwerk n-ost im Gespräch

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Ein Junge mit Gewehr in den Händen; daneben eine Statue mit Gewehr

Zwei Bilder aus der neuen n-ost Newsletter Publication EUROPEAN IMAGES: links:
Fotografie von Natalia Kepesz © aus der Serie »Niewybuch«; rechts Ramin Mazur ©
aus der Serie »Memory of War« 

Visual History, 28. März 2022

 

Das Journalisten-Netzwerk n-ost (https://n-ost.org/) existiert seit 15 Jahren mit Sitz in Berlin-Kreuzberg und hat sich gegründet, um die deutsche und westeuropäische Berichterstattung über Osteuropa zu verbessern. Inzwischen initiiert die Medien-NGO verschiedene Projekte zu grenzübergreifenden europäischen Themen zu Auslandsberichterstattung und Medienkompetenz mit Schwerpunkt im östlichen Europa. Ganz aktuell startet die monatliche Newsletter-Publikation European Images mit einem fotografischen Schwerpunkt.

 

Christine Bartlitz: Stefan, danke, dass du dir die Zeit für das Interview genommen hast. Du bist ja durch den Krieg in der Ukraine jetzt auch sicherlich stark gefordert. Wofür steht der Name n-ost?

Stefan Günther: n-ost steht für journalistisches Netzwerk mit Schwerpunkt Osteuropa. Aber es gab immer wieder Änderungen, was den Kern unserer Tätigkeit und die Region, in der wir arbeiten, angeht. »Osteuropa« lässt sich heute nicht mehr so eindeutig definieren. Nach dem Mauerfall wurde immer nur vom »Osten« gesprochen, aber heute läuft eine Definition von »Osteuropa« unserem Anspruch eher entgegen, eine differenzierte Berichterstattung zu liefern. Wir wollen ja nicht aus einer deutschen Perspektive heraus Osteuropa erklären, sondern wir verstehen unsere Arbeit als Cross-Border-Journalismus, der gemeinsam über die Ländergrenzen hinweg entsteht und Europa als Ganzes thematisiert. Ein Schwerpunkt auf die ost- und mitteleuropäischen Länder wird aber weiterhin bestehen bleiben: durch unsere bisherige Arbeit und die dadurch vorhandenen Kontakte.

Wir sind ja in erster Linie ein Netzwerk, das eigentlich jedes Jahr eine Medienkonferenz in einem ost- oder mitteleuropäischen Land organisiert, bei der sich viele persönliche Kontakte ergeben. Auf der anderen Seite gibt es viele europäische Initiativen und Netzwerke, die traditionell eher westeuropäisch ausgerichtet sind. Ost- und mitteleuropäische Länder spielen aber seit geraumer Zeit im europäischen Bewusstsein politisch und wirtschaftlich eine immer größere Rolle – das zeigt aktuell der Überfall und der Krieg in der Ukraine mit all seinen derzeitigen und potenziellen Folgen in erschreckender Weise.

 

Ihr habt schon vor vielen Jahren mit dem Fokus auf Cross-Border damit begonnen, Auslandsjournalismus neu zu denken. Woher kommen die Journalist:innnen und Fotograf:innen in eurem Netzwerk?

Aus allen Teilen Europas, aber eben vor allem aus Ländern wie Polen, der Republik Moldau, aus Rumänien und der Ukraine, Russland, Serbien, natürlich auch aus Deutschland, Griechenland bis hin zur Türkei … Wir arbeiten verstärkt mit den Text- und Fotojournalist:innen zusammen, die in den Berichtsländern ihren Lebensmittelpunkt haben. Aktuell gibt es mehr als 200 Journalist:innen in unserem Netzwerk.

 

Und dieser Netzwerkcharakter ermöglicht eine stärker europäisch vergleichende Perspektive?

Genau. Wir konzentrieren uns gerade stark auf kollaborative Publikationsprojekte für eine gesamteuropäische Öffentlichkeit. Wir agieren also nicht mehr in erster Linie als Agentur, sondern veröffentlichen selbst Texte und Bilder – und das eben nicht als deutsche Redaktion, sondern grenzüberschreitend und kollaborativ. Wir wollen aus der nationalen Perspektive herauskommen und Sichtweisen aus anderen Ländern gleichberechtigt mit aufnehmen. Das ist manchmal gar nicht so leicht. Denn ich kann nicht sagen, ich höre mir an, was die Partner:innen aus Polen oder Griechenland denken, und dann nehmen wir doch Bilder oder Texte, die aus einer deutschen Perspektive heraus erzählen. Die Beiträge entstehen gemeinsam, auch wenn es dadurch manchmal länger dauert.

 

Hat sich deine Arbeit bei n-ost seit dem 24. Februar verändert?

Natürlich gibt es eine verstärkte Nachfrage nach Bildern aus der Ukraine. Wir haben außerdem gleich in der ersten Kriegswoche einen Spendenaufruf für Jounalist:innen in der Ukraine gestartet. Da wir eng mit den Kolleg:innen verbunden sind und in direktem Kontakt stehen, wussten wir relativ früh, was Journalist:innen brauchen, um ihre Arbeit unter diesen Bedingungen fortzuführen. Sie brauchen zum Beispiel schusssichere Westen, aber solche Westen sind momentan nicht leicht zu bekommen. Und für n-ost ist das natürlich auch Neuland, solche Dinge zu organisieren und zu verteilen. Wir haben eine Partnerorganisation in Warschau, die uns dabei unterstützt.

 

Das finde ich sehr beeindruckend! Kommen wir zu deiner Arbeit als Leiter des Bildbereichs von n-ost: Mit was für Fotografien arbeitet ihr? Und wo kommen die her? Also gerade auf den Krieg in der Ukraine bezogen, der uns ja tagtäglich mit einer Vielzahl von Bildern konfrontiert.

Wir arbeiten mit Fotograf:innen aus der Ukraine zusammen, die wir persönlich kennen. Daher können wir auch darauf vertrauen, dass die Informationen und der Kontext der Bilder stimmen.

 

Gibt es eigentlich so etwas wie nationale Bildpolitiken? Ich habe am Anfang des Ukraine-Krieges viel CNN gesehen. Da ist mir aufgefallen, dass dort viel mehr Tote gezeigt wurden als in der deutschen Berichterstattung in den ersten beiden Kriegswochen. Gibt es andere Sehgewohnheiten in den Ländern oder vielleicht auch andere Traditionen, Krieg zu fotografieren? Denn wenn wir an den Irak-Krieg denken, mit den Bildern, die eher an ein Computerspiel als an einen dreckigen todbringenden Krieg erinnerten, sehen wir jetzt ja etwas ganz anderes. Der Tod und das Leid sind in die Bilder vom Krieg zurückgekehrt.

Ein gutes Beispiel ist das Foto der in Irpin bei dem Versuch, den belagerten Ort zu verlassen, getöteten Zivilist:innen, eine Mutter und ihre beiden Kinder, fotografiert von der Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario, veröffentlicht auf dem Titel der New York Times vom 7. März 2022. Darüber wurde ja auch in Deutschland diskutiert, weil deutsche Zeitungen, anders als die New York Times, das Bild aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes der Opfer und ihrer Angehörigen nicht gezeigt oder die Gesichter verpixelt haben. Ansonsten sehe ich keine großen Unterschiede, abgesehen davon, dass jeder Fotograf, jede Fotografin und die Medien ihre jeweils eigene Perspektive haben.

Ein ganz wichtiger Punkt ist die Bildunterschrift, mit der sich ein und dasselbe Foto in einen völlig unterschiedlichen Kontext setzen lässt. Ich hatte im Jahr 2015 Kontakt zu dem russischen Fotografen Max Avdeev. Seine Bildserie über den Krieg in der Ost-Ukraine wurde bei BuzzFeed veröffentlicht und hat die ganze Brutalität des Krieges gezeigt. Avdeev erzählte mir, dass seine Fotos nach der Veröffentlichung im Internet von allen Seiten verwendet worden seien, immer mit einer anderen Bildunterschrift. Er hat damals die Kontrolle über seine Fotografien komplett verloren.

 

Momentan fühlt es sich ja so an, als ob wir den Krieg live über Social Media nach Hause übertragen bekommen: Die Handyvideos, die Bilder auf Twitter, Instagram und Facebook können wir fast in Echtzeit rezipieren. Die meisten Menschen konsumieren über Social Media. Macht das einen Unterschied für euch?

Dass solche Bilder auf Social Media sind und dort konsumiert werden, ist ja inzwischen nichts Neues mehr und trotz aller Problematik wichtig. Aber ich habe die Beobachtung gemacht, dass die Fotos von erfahrenen (Presse)Fotograf:innen ebenfalls eine hohe Wirkkraft haben, auch in den sozialen Medien, weil sie von der Bildsprache und vom Kontext oft klarer sind. Diese Bilder werden ja von den Zeitungen, den Medien, den Agenturen auch in den sozialen Medien veröffentlicht und dort gesehen, geteilt, weiterverbreitet.

Es gab z.B. bis vor kurzem in Mariupol noch einen Fotografen, der auch für AP tätig ist: Evgeniy Maloletka kennt sich in der Stadt aus, er war beim Angriff auf die Geburtsklinik mit dabei, er weiß, wo er hingeht. Seine Bilder waren in fast allen Zeitungen zu sehen und haben dort die Grausamkeit der russischen Angriffe belegt. In der letzten Woche hat er selbst eine kleine Auswahl seiner Fotografien auf Facebook gepostet. Dort finden sich auch Bilder von ihm, die nicht in den Medien zu sehen sind, weil sie zu explizit sind und die Brutalität ganz unverstellt zeigen. Sie zeigen, was passiert, wenn eine Granate eine ältere Frau in ihrer Wohnung verletzt, oder mit welch dramatischen Verletzungen jemand nach einem Bombenangriff in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Man kann darüber streiten, ob man solche Bilder zeigen sollte. Meiner Meinung nach ist es trotz aller Bedenken wichtig, sie dosiert zu sehen, um wenigstens ansatzweise zu verstehen, was solch ein Krieg bedeutet. Und es gibt ja auch Triggerwarnungen vor sensiblen Inhalten auf den Portalen.

 

Du hast von der Wirkmacht der Bilder gesprochen. Ich habe momentan den Eindruck, dass das Mobilisierungspotenzial durch die Fotografien aus der Ukraine sehr stark ist. Das gab es natürlich schon in früheren Kriegen, wenn wir an das Foto von Kim Phúc aus dem Vietnam-Krieg denken. Was können aktuell Kriegsfotos bewirken?

Du hast es ja vorhin gesagt: Der Irakkrieg war geografisch ziemlich weit entfernt und von der Bildsprache eher »klinisch«. Die aktuellen Fotografien aus der Ukraine zeigen, dass es sich um einen gnadenlosen Angriff auf ukrainische Städte handelt. Das lässt sich gerade durch die Vielzahl der Bilder erkennen, die all die beschossenen und zerstörten zivilen Einrichtungen zeigen. Es ist gut, dass diese Bilder ständig präsent sind und wir diese Verbrechen nachvollziehen können. Außerdem beweist diese Vielzahl an Bildern auch, dass es sich nicht um Fälschungen handeln kann, wie von Russland behauptet. Es ist eben nicht immer wieder das gleiche Haus, das aus zig verschiedenen Perspektiven fotografiert worden ist, es sind ganze Straßenzüge und Stadtteile, die da ausradiert werden.

 

Insofern trägt diese Bilderflut auch zur Verifizierung bei. Denn vollkommen unabhängig, in welchem Medium ich mich informiere, sehe ich immer neue Fotos zum Beispiel von zerstörten zivilen Gebäuden wie Schulen, Krankenhäusern etc. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Ja, genau, es geht um die Breite der Perspektive. In Russland werden diese Bilder nicht gezeigt, die Menschen dort sehen keine zerschossenen Krankenhäuser, keine toten Zivilist:innen, nichts dergleichen. Das haben mir in einem Gespräch auch die Fotoredakteur:innen von Meduza bestätigt, einer russischen Online-Zeitung, die aus dem Exil von Riga aus arbeiten. Meduza ist in Russland inzwischen komplett geblockt, aber über technische Hilfsmittel wie VPN-Tunnels können die dort veröffentlichten Bilder auch in Russland gesehen werden. Die Zeitung erreicht dadurch zwar selten die Menschen, die komplett auf Regierungslinie sind, dennoch ist es gut, in einem russischsprachigen Medium jeden Tag ein neues Bild von den Verheerungen in der Ukraine und das Wort »Krieg« groß auf der Startseite sehen zu können. Das ist eine klare Gegenstrategie zum russischen Bilder- und Sprechverbot.

 

Die Menschen in Russland wollen diese Bilder vielleicht auch gar nicht sehen. Denn dann müssten sie sich zu diesem Krieg, zu diesen Kriegsverbrechen, zu Putin verhalten.

Man kann sich auch in Russland theoretisch alle Bilder im Internet holen, wenn man es denn will. Die Macher:innen von Meduza haben uns von ihrem Eindruck berichtet, dass viele Menschen in Russland wohl ahnen, dass dies ein echter Krieg ist und es nicht stimmt, was sie von ihrer Regierung erzählt bekommen. Aber die meisten wollen es wohl nicht wahrhaben und sich daher die Bilder auch erst gar nicht ansehen.

 

… Bilder haben eine große emotionale Kraft.

Bevor Meduza in Russland geblockt worden ist, haben sie von der russischen Medienüberwachungsagentur zuerst ein Schreiben bekommen: Begründet wurde das Verbot von Meduza durch die veröffentlichen Fotografien, nicht aufgrund der Texte.

 

Zum Schluss habe ich noch eine eher private Frage. Du bist ja auch Fotograf. Hast du jemals in einem Kriegsgebiet fotografiert? Was für eine Bedeutung hat Kriegsfotografie für dich?

Nein, ich war noch nie in einem Kriegsgebiet. Ich kenne das nur von den Bildern und persönlichen Berichten der Fotograf:innen und Journalist:innen, wie von dem Fotografen Florian Bachmeier, der schon lange mit n-ost zusammenarbeitet. Vor dem Maidan war er zum ersten Mal in der Ukraine, und seitdem ist er immer wieder hingefahren und hat auch direkt an der sogenannten Kontaktlinie fotografiert, wo sich Ukrainer und von Russland unterstützte Separatisten gegenüberstanden. Er ist auf eine Art furchtlos, aber bringt sich auch nicht sinnlos in Gefahr. Das finde ich schon bewundernswert.

 

Stefan, ich danke dir für das Gespräch.

 

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