Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen Georgien

Perspektiven aus einem Land, das die russische Aggression kennt

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Straße mit einem Panzer, einem Eselskarren und Polizei

Georgische Polizei und russische Soldaten bei der Evakuierung eines zerstörten Panzers nach dem russisch-georgischen Krieg vom August 2008, nördlich von Gori, 10. Oktober 2008. Urheber: Matti&Keti, Lorenz.King@geogr.uni-giessen.de. Quelle: Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

8. Juli 2022

 

Das erste, was man in Georgien am 24. Februar nach Russlands Angriff auf die Ukraine dachte, war: Fängt jetzt auch der Krieg gegen Georgien wieder an? Sind wir das nächste Land?

Auch in Georgien fanden mehrere Demonstrationen gegen den Krieg statt, und die georgische Bevölkerung steht der Ukraine bei, aber die angespannte Situation ist auf andere Art zu spüren. Die Menschen solidarisieren sich nicht nur aus Mitleid mit der ukrainischen Bevölkerung, sondern vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen. Der Krieg im August des Jahres 2008 hat Spuren hinterlassen.

Vor ein paar Tagen rief mich eine Verwandte an, wir telefonierten lange, in ihrer Stimme lag Angst. Sie ist selbst vor dreißig Jahren Opfer der russischen Aggression geworden und musste fliehen. Als Person mit Migrationshintergrund kennt sie dieses Gefühl – ein Gefühl, das sie nie vergessen hat. »Ich habe mit meinem Cousin telefoniert, er musste damals Georgien auch verlassen und ist nach Donezk gegangen, nach dem Krieg 2014 musste er nochmal fliehen und ist nach Charkiw gezogen, jetzt musste er zum dritten Mal sein Haus verlassen und ist jetzt in Kyjw. Ich habe Angst, dass ich nochmal mein Zuhause verlassen muss«, erzählte sie mir.

 

Warum Russland immer die Verantwortung trägt

In einer Pressekonferenz wandte sich Wolodymyr Selenskyj an die westlichen Staaten wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Dabei erwähnte er den Fehler, der vor Jahren gemacht wurde und wodurch dieser Krieg hätte verhindert werden können. »Wenn wir nicht mehr sind, dann werden, Gott bewahre, Lettland, Litauen, Estland, Moldau und Georgien die nächsten sein. Glauben Sie mir«,[1] sagte Selenskyj.

Im Jahr 2019 hatte der Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych in einem Interview den Krieg vorausgesagt: Es sei zu 99,9 Prozent sicher, dass es zu einem Krieg kommen werde: »2020, 2021 und 2022 sind die kritischsten Jahre.«[2] Er begründete dies mit dem Interesse Russlands, die Ukraine zu schwächen, um sie für einen NATO-Beitritt uninteressant zu machen.

Die Haltung des Putin-Regimes zeigte sich bereits 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz, als sich der russische Präsident an die Delegierten wandte und den Versuch der Nato-Osterweiterung als »provozierenden Faktor« für Russland bezeichnete. Er stellte die Frage, gegen wen sich diese Erweiterung richte, und sagte: »Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung ein.«[3]

Im April 2008 fand der NATO-Gipfel in Bukarest statt. Das war ein weiterer Grund für Putin, Georgien anzugreifen. Georgien und die Ukraine hatten gehofft, in den Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft aufgenommen zu werden. Doch obwohl die NATO-Mitglieder die Beitrittsbestrebungen beider Länder begrüßten und sich darin einig waren, dass diese Mitglieder der NATO werden sollten, beschlossen sie im Dezember 2008, ihren Antrag zunächst zu überprüfen. Gegen den Beitritt stimmten insbesondere Deutschland und Frankreich.

 

Wer hat mit dem Krieg angefangen?

Die Folgen des fünftägigen Krieges, der das georgische Gebiet Südossetien zerstörte und bei dem mehrere Zivilisten getötet wurden, reichen bis in die Gegenwart. Russland hält dieses Gebiet seit vierzehn Jahren besetzt und verschiebt die Grenzen immer wieder ins Landesinnere. Vierzig Kilometer entfernt von der Hauptstadt Tbilisi stehen russische Truppen, und noch immer werden Menschen bei der Überquerung der sogenannten Grenze erschossen.

Bevor es jedoch zum Augustkrieg des Jahres 2008 kam, hatte die damalige georgische Regierung mehrere Gespräche und Treffen mit westlichen Politiker:innen organisiert. In ihren Memoiren beschreibt die ehemalige Außenministerin der USA, Condoleezza Rice, ein Treffen mit dem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili, in dem sie ihn bat, sich nicht von den Russen provozieren zu lassen: »Trotz der einseitigen georgischen Waffenruhe zu Beginn des Tages setzten die südossetischen Rebellen den Beschuss ethnisch georgischer Dörfer in und um die Hauptstadt Zchinwali fort. Daraufhin begann das georgische Militär mit einer schweren Militäroffensive gegen die Rebellen«, beschreibt Rice in ihrem Buch »No Higher Honor: A Memoir of My Years in Washington« aus dem Jahr 2011.[4]

Heidi Tagliavini, Leiterin der vom Europäischen Rat eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt zwischen Russland und Georgien, machte in ihrem Bericht Georgien für den Kriegsausbruch verantwortlich. Obwohl Tagliavini Russland zugleich für eine unverhältnismäßige Reaktion gegen Georgien kritisierte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Nachgang des Krieges Russland mehrerer Menschenrechtsverletzungen gegen Georgien für schuldig befand, gibt es immer wieder Diskussionen darüber, dass Georgien ein Interesse daran gehabt habe, einen Krieg zu beginnen.

Zum Vergleich: Georgien ist ein Land mit 3,7 Millionen Einwohner:innen, Russland hingegen hat 144,1 Millionen Einwohner:innen und ist ungefähr 114-mal größer. Um mit Russland diplomatisch zu verhandeln und sich abhängig von der russischen Energie zu machen, geschah das, was wir seit drei Monaten in der Ukraine beobachten. Das Putin-Regime hat eigene Pläne, es spielt keine Rolle, ob man sich provozieren lässt oder auf seine Invasion antwortet. Als Russland im Februar die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte, reagierte Selenskyj zurückhaltend und meinte, dass die Ukraine einen friedlichen und diplomatischen Weg wählen und auf die Provokation nicht antworten würde, aber auch kein Territorium aufgeben werde. Nichtsdestotrotz griff Russland die Ukraine am 24. Februar an.

Seit über drei Monaten ist Krieg in der Ukraine. Es ist ein Krieg, der eher als Völkermord bezeichnet werden sollte als ein Kampf, in dem beide Seiten gleichgestellt sind. Nachdem die Fotos und Videos aus Butscha im Internet zu sehen waren, zeigten sich Politiker:innen schockiert. »Butscha-Massaker«, »Gräueltaten in Butscha« hieß es in den Medien.

Doch waren diese Geschehnisse, die die brutale Seite des russischen Regimes zeigen, wirklich so unvorstellbar? Die Geschichte nach der Auflösung der Sowjetunion deutet auf etwas anderes hin. Für die Antwort auf diese Frage braucht man nicht allzu weit in die Geschichte zu schauen. Die russische Aggression fing in den 1990er Jahren an, als 1992/93 im Gebiet Abchasien ein Krieg ausbrach, der mit der Besetzung durch russische Truppen endete. Die Fotos von damals sind nahezu identisch mit den Fotos von Butscha: Leichen auf der Straße, gefolterte Körper und Vergewaltigungen. Russlands Kriegsverbrechen haben nicht im Februar 2022 angefangen, sie haben eine dreißigjährige Geschichte.

Selbstverständlich war die politische Lage sowohl im Kaukasus als auch im Westen damals eine andere, und man sollte das hierbei auch berücksichtigen. Aber die brutale Vorgehensweise der russischen Seite war schon vor dreißig Jahren zu beobachten.

Die Europäische Union hat vor Beginn des Krieges verschiedene Maßnahmen ergriffen und Sanktionen verhängt, viele westliche Staaten haben seit Beginn des Krieges weitere Sanktionen gegen Russland angekündigt, und mehrere internationale Unternehmen haben ihre Arbeit in Russland eingestellt. Die georgische Bevölkerung schaut gerade hoffnungsvoll in Richtung EU; für sie ist es lebenswichtig, Russland geschwächt zu wissen. Den Georgier:innen ist klar, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf, schon allein damit ihr Land nicht das nächste sein wird, das angegriffen wird.

 

Anmerkungen

[1] WELT Nachrichtensender: UKRAINE-KRIEG: »... bis hin zur Berliner Mauer, glauben Sie mir!« Die Warnung von Präsident Selenskyj, 03.03.2022, https://www.youtube.com/watch?v=vROhAJ1FCK8 [05.09.2023] (ab Min.15:00).

[2] Oleksij Arestowytsch: Interview mit dem ukrainischen Sender Apostrof TV, 18.03.2019, https://www.youtube.com/watch?v=1xNHmHpERH8 [05.09.2023].

[3] AG Friedensforschung: Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner »Sicherheitskonferenz« in deutscher Übersetzung, 14.02.2007, http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Sicherheitskonferenz/2007-putin-dt.html [05.09.2023].

[4] Rice: Saakashvili let Russians provoke him into starting war, in: Eurasianet. org, 15.11.2011, https://eurasianet.org/rice-saakashvili-let-russians-provoke-him-into-starting-war?cid=oth_partner_site-atlantic [05.09.2023].

 

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