Ideologie ist gelingende Authentizität

Überlegungen zu den Wochenschauen in den deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaften

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Filmstill: Wochenschau-Magazin Unsere Zeit, Magazin-Nr. 73, Oktober 1953 (BRD)

Abstract

Dieser Aufsatz untersucht die Inszenierung des Authentischen und seine politische Funktion an ausgewählten Beispielen von Wochenschauen aus der Bundesrepublik und der DDR in den 1950er und 1960er Jahren. Für die damaligen Zuschauer*innen stand das Authentizitätsversprechen der bewegten Bilder in einem Spannungsverhältnis zur offensichtlichen Inszenierung des Politischen, nicht zuletzt nach den Erfahrungen in der NS-Diktatur. Die folgenden Überlegungen zeigen, dass Authentizität und Ideologie dennoch keine Gegensätze waren, sondern sich bedingten. Die Inszenierung der Ideologie durch den Einsatz von nicht-fiktivem Bildmaterial, dem die Zuschauer*innen Authentizität zuschreiben konnten, war geradezu die Voraussetzung dafür, dass die erhoffte propagandistische Wirkung erzielt werden konnte.

 

Wochenschauen, die in den Kinos gezeigten aktuellen Zusammenstellungen von Filmberichten über das Zeitgeschehen von insgesamt 10 bis 15 Minuten Dauer, prägten das Bildgedächtnis in Europa bis zum Siegeszug des Fernsehens beginnend in den 1960er Jahren maßgeblich (Pfister 2014; Kleinhans 2013; Lehnert 2013; Schwarz 2002; Etmanski 2007, 12-37).[1] Dabei standen im Deutschen Reich bis in die 1930er Jahre hinein verschiedene kommerzielle Anbieter dieser »tönenden Zeitung des Lichtspieltheaters« im Wettbewerb (Giese 1940, 10). Von 1940 an existierte dann nur noch die Deutsche Wochenschau, die von der UFA im Auftrag des NS-Regimes produziert wurde und deren »Kommandosprache« den Zeitgenossen noch lange im Gedächtnis blieb (Bartels 2004; Schwarz 2006, 204).

Auch nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs« blieben die Wochenschauen ein Medium der Besatzungsmächte und bald darauf auch der beiden deutschen Regierungen; es gab, wie die Historikerin Uta Schwarz überzeugend argumentiert hat, einen »in Ost und West prinzipiell ungebrochenen Glauben, mithilfe aktueller dokumentarischer Filmbilder die Massenpublika wirksam beeinflussen und erziehen zu können« (Schwarz 2006, 204; siehe auch Gröschl 1997).

Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach Authentizitätszuschreibungen und -erwartungen in den deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaften medien-, mentalitäts- und politikgeschichtlich relevant. Schon für die damaligen Zuschauer*innen stand das Authentizitätsversprechen der bewegten Bilder in einem Spannungsverhältnis zur offensichtlichen Inszenierung des Politischen, nicht zuletzt nach den Erfahrungen in der NS-Diktatur. Doch schon seit dem Ersten Weltkrieg und den politisch bewegten 1920er Jahren bestand über den politischen Nutzwert dokumentarischer und damit vermeintlich »authentischer« Aufnahmen Einigkeit.

Auch im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres 1940 galt das Medium der Wochenschau als eines der »hervorragendsten publizistischen Führungsmittel, deren sich eine Staatsführung zur Verwirklichung ihrer politischen Absichten und Ziele bedienen kann«, wie eine zeitgenössische Leipziger Arbeit zur Presseforschung hervorhob (Giese 1940, 5). Die bisherige Forschung hat die politische Dimension der Wochenschauen, zumal jener aus der nationalsozialistischen Zeit, bislang vor allem unter den Begriffen Propaganda und Ideologie diskutiert. Das Konzept von Authentizität wurde hingegen nur selten problematisiert (Ausnahme: Stamm 2005), was angesichts der Konjunktur dieses Begriffs in den Medien- und Kulturwissenschaften bemerkenswert ist (Saupe 2016; Saupe 2015; Schultz 2003; Schierl 2003).

An diesem Punkt möchte mein Beitrag ansetzen, der die Inszenierung des Authentischen und seine politische Funktion an ausgewählten Beispielen von Wochenschauen aus der Bundesrepublik und der DDR in den 1950er und 1960er Jahren analysiert. Besonders für die Hochphase des Kalten Kriegs scheint die Annahme naheliegend, dass Authentizität nicht von oben aufgezwungen werden konnte, sondern der Effekt einer Zuschreibung war (so auch Lehnert 2017, 2).

Obwohl es übertrieben wäre, schon in dieser Zeit von einer Demokratisierung der Sehgewohnheiten zu sprechen, so war es doch eine besondere Herausforderung für die Macher der Wochenschauen der Nachkriegsjahre, die nach wie vor angestrebte politisch-ideologische Beeinflussung der Zuschauer*innen nicht mehr allein durch die Propagierung einer spezifischen Lesart zu erreichen. »Jeden Gedanken an eine Zweckdarstellung, Belehrung oder Erziehung lehnen wir grundsätzlich ab«, behauptete denn auch der erste Chefredakteur der westdeutschen Neuen Deutschen Wochenschau (NDW) Heinz Kuntze-Just: Mit der Wochenschau sei »keine Politik zu machen« (zit. n. Schwarz 2006, 208). Stattdessen kam es nun entscheidend darauf an, die Wochenschauen so zu gestalten, dass der/die Zuschauer*in dem im Kino Erfahrenen, also dem Gesehenen wie Gehörten, Authentizität zuschrieb. Diese Aufgabe war komplex, zumal die Besucher*innen seinerzeit bereits wussten, dass Wochenschau-Berichte zumindest partiell inszeniert sein konnten (Lehnert 2017).

Eine der Voraussetzungen dafür, dass dieser Authentizitäts-Zuschreibungs-Effekt eintrat, war, dass die Zuschauer*innen das Vorgeführte sinnvoll an ihr bisheriges Wissen anschließen konnten, ohne sich politisch bevormundet zu fühlen. Wie generell im Dokumentarfilm, so war auch in den Wochenschauen die »Beglaubwürdigung von geteiltem Wissen« (Huck 2012, 245) eine der zentralen Aufgaben des Genres. Die folgenden Überlegungen gehen daher von der These aus, dass die Wochenschauen in dieser Zeit die Frage nach Authentizität unausgesprochen immer schon mitverhandelten bzw. mitverhandeln mussten, weil der Realitätseffekt der bewegten Bilder angesichts der Erfahrungen in der NS-Diktatur und mit der anschließenden Politik der alliierten »Reeducation« problematisch geworden war (so auch Lehnert 2017; Pfister 2014, 51; zur Filmpolitik der westlichen Alliierten in den Nachkriegsjahren siehe Weckel 2012 und Roß 2005; zur Bildsprache des damaligen Kinos generell Morin 1958).

Dieser Aufsatz fragt weiterhin danach, ob und in welchem Maße die Zuschauer*innen seinerzeit mit verschiedenen Ansprüchen auf Authentizität konfrontiert wurden und inwieweit die Bild- und Tonsprache der frühen Propagandafilme zu Wiederaufbau, Reeducation und Entnazifizierung Eingang in die Wochenschauen der Nachkriegszeit fanden, die vielfach von denselben Journalisten, Kameramännern und Regisseuren hergestellt wurden. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist, dass der ursprünglich für die erste Wochenschau der Bundesrepublik ins Auge gefasste Name »Europäische Wochenschau« – in bewusster Abgrenzung zur »Deutschen Wochenschau« der NS-Zeit – fallengelassen wurde, weil der Verleiher befürchtete, die Zuschauer*innen würden in dem neuen Produkt keine von Deutschen gemachte Wochenschau erwarten. Angesichts der Besatzungsherrschaft der Alliierten war 1949 nationale Kontinuität und moderate Abgrenzung (»neue deutsche« Wochenschau) »unverfänglich« und wichtiger als europäischer Neubeginn.[2]

Um die angesprochenen Punkte zu klären, gehe ich in drei Schritten vor. In einem ersten Abschnitt mache ich zunächst einige grundlegende Bemerkungen zum Verhältnis von Authentizität und Wochenschau, wobei ich mich maßgeblich auf die Ergebnisse der bisherigen mediengeschichtlichen Forschung stütze, die allerdings die in den Kunst- und Bildwissenschaften geführten Diskussionen über das »Bildhandeln« weitgehend ausgeklammert hat (Seja 2009). Daran anschließend zeige ich anhand dreier kurzer Ausschnitte von Wochenschauen aus der Bundesrepublik und der DDR in den 1950er und 1960er Jahren exemplarisch, welche Mittel damals zum Einsatz kamen, um den Anspruch auf Authentizität des Gezeigten trotz des unterstellten Ideologieverdachts der Zuschauer*innen aufrecht zu erhalten. In einem dritten und letzten Abschnitt fasse ich meine Ergebnisse kurz zusammen und zeige auf, wie diese über das engere Thema der Wochenschauen hinaus für die allgemeine Diskussion um Authentizität und Medien anschlussfähig sind.

 

Die Authentizität der Wochenschauen

In Anlehnung an Bernd Kleinhans unterscheide ich im Folgenden Authentizität von verwandten Begriffen wie Objektivität oder Wahrheit. Bedingung für Authentizität ist zunächst, dass nicht-fiktionale Bilder oder Töne zum Einsatz kommen, oder, anders gesagt, dass »die Filmbilder eine nicht inszenierte außerfilmische Realität« zeigen. Manche Autor*innen fordern als weitergehendes Kriterium, dass sich das »Geschehen vor der Kamera auch dann genauso vollzogen hätte, wenn es nicht gefilmt worden wäre« (Kleinhans 2013, 369-370; Pfister 2014, 70-71; Schroer/Bullik 2017: 65-66). Es ist allerdings fraglich, wie dieses Kriterium erfüllt werden kann. Die Anwesenheit einer (sichtbaren) Kamera dürfte, zumal im zwanzigsten Jahrhundert, das Verhalten der gefilmten Menschen in fast allen Fällen beeinflusst haben.

Meine gewissermaßen heuristische Arbeitsdefinition, die zumindest partielle Nicht-Fiktionalität als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für gelingende Authentizität fordert, steht im Gegensatz zu Positionen, die das Konzept der Authentizität in Gänze als »Mythos« aufgeklärter und komplexer Gesellschaften verwerfen (Schierl 2003, 165). Letztgenannte Auffassung lässt sich erkenntnistheoretisch begründen, verhindert aber eine genauere Analyse dessen, was eigentlich passiert, wenn Wochenschauen mit nicht-fiktionalem Bildmaterial arbeiten und damit eine Geschichte erzählen, die zwangsläufig narrativ vermittelt ist und daher nie in einem absoluten Sinne »authentisch« sein kann.

Mit dieser Vorentscheidung ist noch keine Aussage über den Wahrheitsgehalt eines Wochenschaubeitrags verbunden. Auch im oben genannten Sinne nicht-fiktionale Bilder wurden in der täglichen Praxis so montiert, dass sie bei den Zuschauenden einen bestimmten Eindruck hervorrufen sollten. Bei den Wochenschauen handelte sich immer um die »bewusste Herstellung einer filmischen ,Wirklichkeit‘« (Pfister 2014, 38; ähnlich Schwarz 2002, 15; differenzierend Schierl 2003, 155-156). Ein Element dieser Beeinflussung war, dass die Wochenschaumacher ihr Bildmaterial bewusst als nicht-fiktional kennzeichneten, indem sie Authentizitätszeichen bzw. Glaubwürdigkeitszeichen verwendeten, die die Zuschauer*innen verstehen und entsprechend bewerten konnten (Kleinhans 2013, 372). Solche Glaubwürdigkeitszeichen waren überprüfbare Referenzen auf die außerfilmische Realität, etwa das Auftreten bekannter Personen oder der Einsatz bereits in das kollektive Bildgedächtnis eingegangener historischer Bilder. Diese Authentizitätszeichen wurden von den Rezipient*innen wahrgenommen, aber nicht durchgehend bewusst reflektiert, weshalb in der Forschung mitunter auch von der Naturalisierung der Authentizitätszeichen gesprochen wird (M. Luginbühl, Vergegenwärtigen und verkünden, 70, zit. n. Kleinhans 2013, 377).

Anschließend an diese Überlegungen ist im Zusammenhang der Authentizität von Wochenschauen zu fragen, ob es sich bei Wochenschauen tatsächlich primär um ein Nachrichtenformat oder nicht vielmehr um eine Art zeithistorische Dokumentation der unmittelbaren Gegenwart handelt. Entgegen dem eigenen Anspruch waren Wochenschauen nämlich keinesfalls aktuell. Dies hing weniger mit dem zeitlichen Abstand zwischen Filmaufnahmen und Auslieferung des fertigen Produkts denn mit der Aufführungspraxis zusammen.

Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hatten Wochenschauen eine Spieldauer von bis zu acht Wochen. Diese Zeitspanne wurde während des Kriegs auf vier Wochen halbiert und dann grosso modo auch nach 1945 beibehalten. Im Vergleich zur Tageszeitung und dem Radio war die Wochenschau damit zwangsläufig immer »unaktuell« – ein Umstand, der von Auftraggebern und Machern bei der Themenauswahl und der Inszenierung mitbedacht werden musste. Anders formuliert: Das von der jeweiligen Wochenschau verwendete Narrativ musste auch Wochen später noch plausibel sein. Die Umstände der Aufführungspraxis führten dazu, dass die Wochenschauen in sich geschlossene Beiträge bevorzugen mussten, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, vom Verlauf der tatsächlichen Ereignisse überholt zu werden.

Aktualität war also zwangsläufig daran gekoppelt, in ein Narrativ einer vorauseilenden Historisierung eingebunden zu werden. Das Vorführen der Gegenwart in Ton und Bild schloss aber nicht nur an weiter zurückliegende Ereignisse und Erfahrungen an, sondern verhandelte indirekt immer auch als unmittelbar bevorstehend imaginierte Zukünfte. Die Wochenschaumacher hatten letztlich keine andere Wahl, als einen quasi-dokumentarischen Stil zu pflegen. Im Gestus des Aktuellen war immer auch Vor- und Rückschau zugleich enthalten (vgl. in diesem Zusammenhang, allerdings mit anderem Ergebnis: Giese 1940, 14f.).

Die besondere Stärke der Wochenschauen war daher nicht ihre Aktualität, sondern ihre sinnliche Wirkung – genauer gesagt, ihre Fähigkeit, mit Hilfe des bewegten Bildes und des Tons einen »unmittelbaren Eindruck von dem bereits bekannten Geschehen hervorzurufen« (Giese 1940, 16). Für die Frage der Authentizität von Wochenschauen ist diese Feststellung von großer Relevanz, bedeutet sie doch, dass in unserem Zusammenhang jegliche Art von »filmimmanenter« Analyse zu kurz greift, weil sie nicht klären kann, was dem/der damaligen Zuschauer*in bereits bekannt war. Als ein erstes Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass die Frage nach der Authentizität von Wochenschauen nie ausschließlich mit Blick auf die Produzenten und durch die Ermittlung ihrer Motive zu klären ist (im Sinne einer Produktions- und Produktanalyse), sondern dass die historische Analyse zumindest ebenso sehr bei den Rezipient*innen ansetzen muss (Wirkungs- und Rezeptionsanalyse) (Müller 2003, 15f.).

Die propagandistische Absicht und ihre technische Umsetzung, aber auch die Zuschreibungen des/der Zuschauenden waren für die gelingende Authentizität entscheidend – also für den Effekt, dass die Zuschauer*innen das Gesehene als »wirklich so passiert« bewerteten und in ihre Erfahrungswelten wie Zukunftsvorstellungen einpassen konnten.

Das bisher Gesagte soll im Folgenden anhand dreier Analysen am historischen Material überprüft und vertieft werden. Ich habe dazu je eine Wochenschau aus den Jahren 1953, 1954 und 1963 ausgewählt.

 

Fallstudie 1: Die Beerdigung Ernst Reuters

Der erste Filmbericht ist dem Wochenschau-Magazin Unsere Zeit entnommen, das ab 1948 von der Firma Zeitfilm auf Veranlassung der britischen Militärregierung hergestellt wurde. Mein Beispiel stammt aus dem Magazin-Nr. 73 vom Oktober 1953, das nur wenige Monate nach den Ereignissen vom 17. Juni gezeigt wurde, die in der politischen Öffentlichkeit und in den Massenmedien von Bundesrepublik und DDR bekanntlich äußert konträr thematisiert wurden. In der Bundesrepublik herrschte eine Sprachregelung vor, die von einem Arbeiteraufstand gegen die kommunistische Diktatur sprach, der den mangelnden Rückhalt der de facto allein regierenden SED in weiten Teilen der Bevölkerung ebenso deutlich gemacht habe wie die völlige Abhängigkeit Pankows von Moskau. In der offiziellen Lesart der DDR hatte es sich hingegen um einen faschistisch-konterrevolutionären Umsturzversuch gehandelt, der von Aufwieglern aus dem imperialistischen Ausland gesteuert nichts weniger bezweckt habe, als den noch im Aufbau befindlichen jungen sozialistischen Staat zu zerstören, ein abermaliger Verrat an der deutschen Arbeiterklasse (Millington 2014; Kowalczuk 2013).

Die politischen Zeitberichte zu deutschen Themen in der zweiten Hälfte des Jahres 1953 entstanden unter dem Eindruck dieser starken Polarisierung. Da wir es in dieser Zeit zumindest bis zu einem gewissen Grade noch mit einer gesamtdeutschen Medienöffentlichkeit zu tun haben, ließe sich vermuten, dass die Wochenschauen die jeweils andere Sicht stets im Blick hatten und eventuell direkt oder indirekt kommentierten.

Ich konzentriere mich im Folgenden auf den zweiten Bildbericht dieser Wochenschau. Er handelt von der Beerdigung des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter, der am 29. September 1953 gestorben war, anschließend im Rathaus Schöneberg aufgebahrt wurde und nach einem Staatsakt am 3. Oktober 1953 auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf bestattet wurde.

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Video 1: Ausschnitt Wochenschau-Magazin Unsere Zeit, Magazin-Nr. 73, Oktober 1953

Reuter wurde auf der Eingangstafel zu diesem Bericht als »unerschrockener Kämpfer für die Freiheit« gewürdigt (umfassend hierzu Brandt 2012). Der eigentliche Bildbericht besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist der politischen Lebensleistung Reuters gewidmet, wobei auffällt, dass nur die jüngste Vergangenheit – Reuters Zeit als Berliner Oberbürgermeister – Erwähnung findet, während alle früheren und zur Gesamtwürdigung der Person ebenfalls wichtigen Lebensstationen unerwähnt bleiben. Nicht einmal seine Partei, die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, wird namentlich genannt; das Kürzel SPD ist nur einmal sehr kurz auf einem Banner zu sehen.

Alle internen Auseinandersetzungen und Streits treten im Film zurück gegenüber der klaren Positionierung Reuters »an der Spitze des Freiheitskampfes«, der gegen die innere Spaltung der Nation gerichtet sei. Dies ist einerseits nicht ungewöhnlich für die Gattung des Nachrufs und insofern auch für diesen Wochenschaubericht zu erwarten, andererseits aber doch bemerkenswert, weil sich anhand von Reuters Lebensgeschichte die Möglichkeit geboten hätte, die junge Bundesrepublik sowohl in eine positiv konnotierte Nationalgeschichte einzuordnen als auch sich klar von den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur abzugrenzen. Zur Erklärung dieser Leerstelle lässt sich zusätzlich darauf verweisen, dass die Parteien in der jungen Bundesrepublik zu Beginn der 1950er Jahre noch nicht den Stellenwert und die Anerkennung späterer Jahrzehnte genossen und eine klare parteipolitische Einordnung des Verstorbenen den Filmemachern offenbar verzichtbar schien.

Der zweite Teil des Filmbeitrags zeigt dann die klassischen Momente einer öffentlichen Trauerbekundung und der Überführung des Leichnams zum Friedhof. Nahaufnahmen und Totale wechseln sich hier ab, sodass die Filmaufnahmen sowohl einzelne trauernde Bürger*innen als auch die Menge der Trauernden auf dem Rathausplatz und an den Straßen West-Berlins ins Bild setzen. Diese Bildsprache war den deutschen Kinobesucher*innen seinerzeit gut bekannt; sie war auch in den nationalsozialistischen Wochenschauen wie auch in Leni Riefenstahls Olympia- und Parteitagsfilmen aus den 1930er Jahren häufig verwendet worden (Kramer 2009) und hielt sich zumindest noch bis in die 1960er Jahre, wie etwa die Wochenschauberichte vom Berlin-Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy im Jahr 1963 nahelegen.

Wie aber gelang es dem Filmbeitrag über die Beerdigung Reuters, den Eindruck von Authentizität hervorzurufen? Wichtig scheint mir vor allem, dass er ausgewählte Bilder des Regierenden Bürgermeisters im Amt und hier vor allem von seinem USA-Besuch mit bekannten Dokumentaraufnahmen von der alliierten Luftbrücke verknüpft und so die These des Kommentars – Reuter sei eine internationale Führungsfigur der sogenannten freien Welt – mit Filmaufnahmen verbindet, die den Zuschauer*innen im Jahr 1953 bereits bekannt sind und von ihnen zugleich als historisch bedeutsam eingeschätzt werden. Mit Abstrichen gilt dies auch für die Sequenzen mit der Freiheitsglocke, die seit 1950 im Rathaus Schöneberg hängt. Es handelt sich gewissermaßen um »Bildikonen«, die als Kristallisationspunkte des kollektiven Gedächtnisses dienen und daher ein besonders hohes Maß an Authentizität beanspruchen konnten (Hütter 2009, 8, zit. n. Pfister 2014, 32).

Der Filmbeitrag inszeniert Ernst Reuter als durch und durch nationalen Mann, als eine politische Führungsfigur, die den »roten Besatzern« der Stadt mutig die Stirn geboten habe. Dies wird besonders deutlich in dem Redeausschnitt von der Großkundgebung zum 1. Mai 1953 vor dem zerstörten Reichstagsgebäude, an der rund 600.000 Menschen teilnahmen. Die entsprechenden Aufnahmen hatten schon frühere Wochenschauen verwendet – etwa die Neue Deutsche Wochenschau Nr. 171 vom 3. Mai 1953. Die Bilder waren also zahlreichen Zuschauer*innen bestens bekannt – sei es vom Kinobesuch, sei es durch ihre persönliche Teilnahme an der Kundgebung. Nur ganz am Rande, wie etwa bei der Sequenz mit den unterschiedlich gehissten Fahnen, scheint auf, dass es im Ostteil der geteilten Stadt zumindest regierungsamtlich auch eine andere Sicht auf den populären Bürgermeister gab. Der Tenor des Berichts über den Tod Reuters und die Trauerfeierlichkeiten blieben jedoch ohne Abstriche dem Bild des mutigen kalten Kriegers verhaftet, das die westdeutschen Massenmedien in den vorausgegangenen Jahren gezeichnet hatten.

 

Fallstudie 2: Der fünfte Jahrestag der DDR

Das zweite Filmbeispiel stammt aus dem Augenzeugen, der Wochenschau der DEFA, dem zentralen »volkseigenen« Filmunternehmen der DDR. Schon dieser Name suggerierte den Zeitgenossen, dass ihnen in dieser Wochenschau ein »unvermittelter Blick auf die Realität« geboten werde (Saupe 2015). Dieser Realismus vertrat zugleich den Anspruch, sich scharf von Formen vorausgegangener Zeugenschaften, etwa den »Blutzeugen« der erst vor wenigen Jahren zu Ende gegangenen nationalsozialistischen Diktatur, abzusetzen (Jordan 1993, 66). Nach offizieller Lesart des NS-Regimes hatten die getöteten nationalsozialistischen Anhänger mit dem Einsatz ihres Lebens die Überlegenheit der faschistischen Ideologie bezeugt (Behrenbeck 1996; Siemens 2009). Solche an christliche Märtyrerkulte anschließende Zeugenschaft, die auf der Erkenntnisleistung und dem Einsatz einiger weniger ausgezeichneter Individuen beruhte, war schon im Nationalsozialismus prinzipiell allen »Volksgenossen« möglich gewesen. Die Entscheidung über die Verleihung des Heldenstatus, also die Anerkennung als Märtyrer der NS-Bewegung, lag jedoch weiterhin bei einer übergeordneten Instanz, hier der NSDAP (hierzu zuletzt Thieme 2017).

Im Gegensatz zu solchen Praktiken propagierte die Wochenschau Der Augenzeuge eine Form der Zeugenschaft, die angeblich ohne Beglaubigung einer höheren Instanz auskam. »Sie sehen selbst, Sie hören selbst – urteilen Sie selbst«, so lautete zumindest zu Beginn ihrer Tätigkeit der ambitionierte Slogan der Wochenschaumacher in der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR (zit. n. Kleinhans 2013, 299). Nicht die Heldentaten Einzelner, sondern die kritische Rezeption des vorgeführten Bild- und Tonmaterials durch mündige Bürger*innen sollten für die Authentizität des Gezeigten bürgen (Schwarz 2006; Jordan 2013, 66).

Es zeigte sich jedoch rasch, dass dieser aufklärerische Anspruch, der in Anlehnung an die Moralphilosophie Kants den Einzelnen dazu aufforderte, Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, in der politischen Praxis der jungen DDR kaum umzusetzen war. Anders gesagt: Die Machthaber vertrauten (mit guten Gründen) schlicht nicht darauf, dass die Urteile der Wochenschau-Besucher*innen in ihrem Sinne ausfallen würden. Sie wirkten daher durch immer stärkere Eingriffe und politische Lenkung darauf hin, dass »ihre« Wochenschau der parteiamtlichen Linie der SED folgte, nicht zuletzt, um so auch ein Gegengewicht zu der in den Wochenschauen der Westzonen und der westlichen Alliierten immer stärker werdenden Kritik an ihrer politischen Herrschaft zu schaffen.

Ein typisches Beispiel dafür, wie vermeintliche Augenzeugenschaft in den Dienst der SED-Herrschaft genommen wurde, zeigt die Wochenschau Nr. 42 vom Oktober 1954. Einziges Thema war der fünfte Jahrestag der DDR, der mit einem Staatsakt am 7. Oktober 1954 begangen wurde. Der folgende Ausschnitt aus dieser Wochenschau beginnt mit der Festansprache des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl.

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Video 2: Ausschnitt Wochenschau Der Augenzeuge, Nr. 42 vom Oktober 1954

Die Rede Grotewohls war – wie nicht anders zu erwarten – ein pathetisches Bekenntnis zur DDR und ein Lob ihrer Aufbauleistung. Explizit erwähnt Grotewohl die Schwerindustrie, den Bergbau und Maschinenfabriken als »Grundlage unserer Friedenswirtschaft«, aber auch den Bau von Wohnungen und Polikliniken, Schulen und Theatern, Sportplätzen und die Wiedererrichtung von Kulturdenkmälern. Die Filmemacher des Augenzeugen unterlegten die entsprechenden Passagen von Grotewohls Rede nicht nur mit triumphaler klassischer Musik, sondern blendeten auch dokumentarische Filmaufnahmen vom Fackelmarsch zum fünften Jahrestag, von der Arbeit in einem Stahlwerk, von neuerrichteten Wohnungen und einem Sportstadion ein. Diese Aufnahmen dienten der Authentifizierung der Rede Otto Grotewohls und besonders der von ihm vertretenen These, dass all die gezeigten Bauwerke Ausdruck dafür seien, »wie die Sorge um den Menschen in einem Arbeiter- und Bauernstaat verwirklicht wird«. Sie waren gewissermaßen visuelle O-Töne, die den mit eineinhalb Minuten vergleichsweise langen Redeausschnitt Grotewohls nicht nur illustrierten, sondern auch dessen inhaltliche Aussage bildlich verstärkten. Sie schufen die für die Filmberichte notwenige Dynamik und machten das Politische sichtbar, indem sie auf die sinnlich erfahrbaren Konsequenzen der politischen Richtungsentscheidungen verwiesen (grundlegend Morin 1958, 145-148).

Das war zugleich nicht ungefährlich, denn der Eindruck der Authentizität war nur um den Preis der Überprüfbarkeit zu haben. Die bei den Zuschauer*innen geweckten Erwartungen mussten sich im Alltag bestätigen lassen. Anfang der 1950er Jahre wird dies noch vergleichsweise unproblematisch gewesen sein, da es sich vielfach um Versprechen für die nahe und mittlere Zukunft handelte, aber schon bald sollte das Auseinanderfallen von der DDR-Führung behaupteter Aufbauleistungen und von den Bürger*innen tatsächlich erfahrbarer Verbesserungen zu einem politischen Problem werden. Schon 1953 aber war vom ambitionierten Slogan des Augenzeugen aus den späten 1940er Jahren (s.o.) kaum mehr etwas geblieben (Kleinhans 2013, 299).

 

Fallstudie 3: Das zehnjährige Jubiläum des 17. Juni 1953

Zehn Jahre jünger als das erste Beispiel ist mein dritter und letzter Filmausschnitt. Er entstammt der UFA-Wochenschau Nr. 360 vom Juni 1963, also der bis 1956 unter dem Namen Neue Deutsche Wochenschau bekannten und von der Bundesrepublik stark subventionierten halb-staatlichen Wochenschau. In dieser Wochenschau war es das zweite Thema (bemerkenswerterweise begann sie mit einem Beitrag über Arbeitsschutz auf dem Bau). Inhaltlicher Aufhänger des Films war das zehnjährige Jubiläum des 17. Juni 1953, ein Anlass, der jedoch aufs Engste mit dem zwei Jahre zurückliegenden Mauerbau vom August 1961 verknüpft wurde. Es handelte sich naturgemäß um ein eminent politisches Thema, sodass die Rhetorik des Kalten Kriegs nicht überrascht. Die »Machart« des Filmbeitrags ist jedoch durchaus bemerkenswert, was sich besonders durch den Einsatz der Bilder sowie an den Filmschnitten zeigt:

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Video 3: Ausschnitt Neue Deutsche Wochenschau, Nr. 360 vom Juni 1963

Dieser Filmbeitrag beginnt damit, dass die Kamera Fotografien vom Mauerbau im August 1961 abfilmt. Die zum Teil grobkörnigen Vergrößerungen in Schwarz-Weiß stammen, so sagt es auch der Kommentar, vom Museum am Checkpoint Charlie, wodurch sie gleich doppelt authentisch wirken: erstens durch ihre Ästhetik – die den Konventionen der Reportagefotografie jener Jahre entsprach –, die scharfe Bilder bei schwachen Lichtverhältnissen, wie sie für die Straßenfotografie typisch sind, nur unter Einsatz hochempfindlichen, aber grobkörnigen Filmmaterials erreichen konnte. Authentizität verbürgte zweitens der Herkunftsort dieser Bilder, also das Museum. Es legt indirekt nahe, dass hier nicht der subjektive Blick des einzelnen Fotografen, sondern gewissermaßen eine Art offizieller oder jedenfalls ein von vielen geteilter, kollektiver Blick auf das Ereignis präsentiert wird.

Der Fokus der Kamera liegt auf den Gesichtern der Fotografierten, vor allem Soldaten der NVA, die Schrecken und Verzweiflung ausdrücken und so – ohne dass es eines direkten Kommentars bedürfte – der offiziellen Version der DDR vom »antifaschistischen Schutzwall« entgegengesetzt sind. Wenig später zeigt der Film dann Bilder von Steine werfenden Demonstranten am 17. Juni 1953. Die Verbindung dieser beiden Ereignisse leistet der Sprecherkommentar, der hervorhebt, dass anders als bei den damaligen Massenprotesten »von Millionen« inzwischen »Verzweiflungstaten Einzelner« nötig seien, um West-Berlin (und damit den sogenannten freien Westen) zu erreichen. Der Anblick eines brennenden S-Bahnhofeingangs 1953 wird dann geschickt übergeblendet in das »ewige Feuer«, das aus einer Gedenkschale zum Andenken an den 17. Juni 1953 vor dem Rathaus Schöneberg lodert. Der abschließende kurze Ausschnitt einer Rede des damaligen Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt aus Anlass des zehnten Jahrestags des »Volksaufstands« in der DDR greift dann die Deutung des 17. Juni als Freiheitskampf direkt auf.

Dieser kurze Filmbeitrag von knapp einer Minute und 20 Sekunden ist ein gutes Beispiel dafür, wie die damaligen Wochenschauen dokumentarische Film- und Fotoaufnahmen in den Dienst von politischer Propaganda stellten. Die dramatischen Aufnahmen wurden geschickt zur Illustration und Beglaubigung der Erzählung von den freiheitsliebenden, aber gewaltsam unterdrückten Deutschen »in der [Ost-]Zone« verwendet. Dieses Narrativ hat die bundesdeutsche Zeitgeschichtsschreibung in den folgenden Jahrzehnten weiter tradiert, deren maßgebliche Protagonisten als Heranwachsende vielleicht nicht ohne Effekt mit den hier diskutierten Wochenschauberichten sozialisiert worden waren (Siemens 2011, 36f.). Die Erzählung von Freiheitssehnsucht und Widerstand bereitete erst den Boden dafür, dass Brandts politische Botschaft am Ende des Filmbeitrags zumindest den entsprechend vorgebildeten Zuschauer*innen als sinn- und wirkungsvoll zugleich erscheinen konnte.

 

Schlussüberlegungen: Authentizität als Effekt und Zuschreibung

Alle drei beispielhaft gezeigten Wochenschauausschnitte weisen einen hohen Grad an politischer Eindeutigkeit und Systemkonformität auf. Zugleich ist deutlich geworden, dass die Filme authentische Aufnahmen – im Sinne des oben Ausgeführten also Filmbilder, die eine nicht inszenierte außerfilmische Realität zeigen – verwendeten und diese wiederholt auch explizit (im Sprecherkommentar) als authentisch kennzeichneten. Dass alle drei Beispiele hochgradig ideologisch geprägte Wochenschaubeiträge waren, steht dazu nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Die Inszenierung der Ideologie durch den Einsatz authentischen Bildmaterials – oder genauer: von nicht-fiktivem Bildmaterial, dem die Zuschauer*innen begründetermaßen Authentizität zuschreiben konnten – war geradezu die Bedingung dafür, dass die erhoffte propagandistische Wirkung eintreten konnte, die Authentizitätspolitiken der Filmemacher also erfolgreich waren (im Ergebnis ebenso Huck 2012, 250). Etablierte Bildikonen waren ein probates Mittel, diese Authentizitätszuschreibungen zu erreichen (Beispiel 1), doch auch genrebezogene Konventionen einer spezifischen Wochenschauästhetik, die den Wahrheitsanspruch der Wochenschauen mit einer wiedererkennbaren Bild- und Tonsprache verknüpfte, machten für die Zuschauer*innen dokumentarisches Material auch authentisch.

Meine Ausgangsvermutung, dass die Wochenschauen die Zuschauer*innen seinerzeit mit verschiedenen Ansprüchen auf Authentizität konfrontierten, um ihnen gewissermaßen gelenkt die Wahl zu lassen, hat sich hingegen nicht bestätigt. Auch wenn sich die eingesetzten filmischen Mittel, die jeweiligen Filmbeiträge authentisch wirken zu lassen, voneinander unterschieden, so handelte es sich bei allen drei Beispielen um »Konsensjournalismus« mit einer politisch vergleichsweise eindimensionalen Bildsprache, die die Zuschauer*innen nur sehr begrenzt zur kritischen Reflexion einlud (Schwarz 2006, 227; Weisbrod 2003, 15).

Drei Erklärungen bieten sich an: Erstens deutet dieser Befund darauf hin, wie stark auch die Nachkriegswochenschauen in der Kontinuität obrigkeitsstaatlicher Bildberichte von vor 1945 standen – und dass, obwohl die Produzenten in der Nachkriegszeit fortwährend das Gegenteil behaupteten. Die Weiterverwendung etablierter Stilmittel – Bildsprache, Motivwahl etc. – ist auffällig und war vermutlich nicht allein auf die personale Kontinuität der beteiligten Kameramänner und Regisseure zurückzuführen, sondern auch den Rezeptionsgewohnheiten der Zuschauer*innen geschuldet. Die Wochenschauen entsprachen in dieser Hinsicht weder in West noch Ost dem Primat der »Sachlichkeit«, den Thomas Mergel als charakteristischen »medialen Stil« der Nachkriegszeit ausgemacht hat (Mergel 2003, 38-42).

Zweitens belegen sie, dass sich schon sehr früh in der Nachkriegszeit Ansätze zu zwei unterschiedlichen Medienöffentlichkeiten in Deutschland herausbildeten, auf die die jeweils andere Seite nur noch sehr begrenzt reagieren musste. Diese Entwicklung war zunächst vor allem ein Phänomen auf der Produzentenebene, denn auf der Rezeptionsebene blieben die deutschen Medienöffentlichkeiten zumindest bis in die späten 1950er Jahre hinein noch »gesamtdeutsch« orientiert, mit auffälligen Kontinuitäten zur Zwischenkriegszeit (Kuschel 2016; Schildt 2001, 201). Selbst wenn ein Wochenschaubericht explizit den Teil des Landes hinter der eigenen Landesgrenze thematisierte, tat er dies schon früh in einer Weise, die so gut wie keinen Spielraum für unterschiedliche Wirklichkeitsdeutungen ließ.

Drittens schließlich ist ein Vergleich mit dem heutigen »Reality-TV« und gegenwärtigen Formen der Öffentlichkeitsarbeit aufschlussreich. So argumentiert etwa der Hamburger Medienwissenschaftler Thomas Weber, dass es sich bei dem dokumentarisch anmutenden Aspekt des Reality-TVs lediglich um eine für die Zuschauer*innen inszenierte, »vermeintliche Authentizität« handele, um sie »affektiv stärker an die Handlung zu binden« – bei gleichzeitig vergleichsweise niedrigen Produktionskosten (Weber 2017, 23). Ähnlich ist es für Praktiker*innen moderner PR eine Binsenweisheit, dass sie das Authentische einer Persönlichkeit für die Massenmedien inszenieren und dabei anstreben, nichts dem Zufall zu überlassen:

»Authentizität erzeugen wir durch eine möglichst systematisch angelegte Folge von Berichterstattungsanlässen, Events genannt, deren Gesamtheit den gewünschten Mythos mit der Person konnotativ verbindet. [...] Die Rezipienten werden Zeugen eines Lebens der Person, das ihnen etwas von deren Persönlichkeit erzählt, das sie zunächst erahnen, dann aber immer stärker erfahren und schließlich wünschen.« (Kocks 2013, 448).

Auch die Wochenschauen der Nachkriegsjahre in den beiden Deutschlands gingen nicht wesentlich anders vor. Sie präsentierten eine systematisch angelegte Folge von Berichten, die die Zuschauenden zunächst zum Zeugen und dann unmerklich zu Komplizen machten und sie durch ihre Einbettung in ein Narrativ mehr oder weniger subtil für eine bestimmte politische Weltanschauung gewinnen wollten. Eine Analyse von Wochenschauen der Nachkriegszeit hat daher nicht nur historisches Erkenntnispotenzial, sondern wirft in umgekehrter Blickrichtung auch Fragen nach der ideologischen Verfasstheit der Gegenwart und die sie prägenden Akteur*innen auf.

 

Anmerkungen

[1]Dieser Beitrag ist aus der Lehrveranstaltung »Information, Unterhaltung, Herrschaftslegitimation: Wochenschauen im deutsch-deutschen Vergleich« hervorgegangen, die ich im Sommersemester 2017 an der Universität Bielefeld angeboten habe. Ich danke meinen Studierenden für die anregenden Diskussionen sowie insbesondere Herrn Frank Becker vom Medienarchiv Bielefeld für seine tatkräftige Unterstützung und Expertise.

[2]Siehe den Beitrag: »neue deutsche« unverfänglich, in: Der Spiegel 49 (1.12.1949), 40, online unter https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44439172.html [10.08.2021].

 

Filmografie

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Neue Deutsche Wochenschau, Neue Deutsche Wochenschau GmbH, Nr. 171, BRD, 3. Mai 1953, Bundesarchiv, Filmothek, https://www.filmothek.bundesarchiv.de/video/586067?set_lang=de [10.08.2021].

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