Deutsche Familiengeschichten und die Ukraine

Der koloniale Blick auf das östliche Europa ist historisch gewachsen

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Pappschild mit der Aufschrift: Hast du vergessen, wo die Ukraine liegt? Frag deinen Opa!

Auf einer Demonstration in Berlin am 25. Februar 2022. Foto: Johannes Spohr ©

16. November 2022

 

Erst seit der im Februar 2022 erfolgten großflächigen Ausweitung des Angriffskriegs, den Russland seit acht Jahren gegen die Ukraine führt, hat das Land einen Platz auf der Mental Map vieler Menschen in Deutschland erhalten. Was vorher allenthalben als Teil einer vermeintlich weit entfernten, als fremd erscheinenden Welt, bestenfalls als ein unter Russland subsumiertes »Niemandsland« bzw. Reservoir billiger Arbeitskräfte – dem Klischee nach vor allem Sexarbeiterinnen, Leihmütter und LKW-Fahrer – galt, rückte ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Durch das Organisieren von Hilfstransporten, die Ankunft von Evakuierten und Geflüchteten sowie über die tägliche Berichterstattung bemerkten viele nun, dass die bisherige Distanz eher ein Ausdruck von Desinteresse als in der geografischen Lage begründet war: Die Ukraine liegt nur einige wenige Autostunden von Deutschland entfernt. Darauf, dass auch der Blick in deutsche Familiengeschichten Bezüge zur Ukraine liefern könnte, wiesen Demonstrierende aus der ukrainischen Diaspora einen Tag nach Beginn der russischen Großinvasion auf einer Demonstration in Berlin hin: »Hast du vergessen, wo die Ukraine liegt? Frag deinen Opa« war dort auf einem Schild zu lesen.

Die jüngste Zeitgeschichte hätte dafür auch vorher zahlreiche Anlässe geliefert. Seit den 1990er Jahren haben sich die Voraussetzungen für Reisen in die ehemaligen »Ostblockländer« wesentlich vereinfacht; dasselbe gilt für den kulturellen, politischen und zivilgesellschaftlichen Austausch.

Einwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den 1990er Jahren – vor allem als »Spätaussiedler:innen« und »Kontingentflüchtlinge« – nach Deutschland kamen, werden auch heute erst zögerlich von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen. Die Lebensrealitäten und Geschichten ost(mittel)europäischer – darunter ukrainischer – Arbeitsmigrant:innen in der deutschen Landwirtschaft und der Altenpflege wurden kaum in den Blick genommen. Etwas mehr Aufmerksamkeit erfuhr die Ukraine hierzulande seit der Orangenen Revolution 2004, vermehrt seit dem Euromaidan 2013/14 und nach der Annexion der Krim durch Russland sowie dem dann begonnenen Krieg im Osten der Ukraine – dort meist noch gefasst als ATO (Anti-Terror-Operation).

Dieses oft überdeckte und dennoch prägende Wissen – ein unweigerlich immer wieder hervorstechendes Erbe – ist Gegenstand des folgenden Artikels. Es wird danach gefragt, wie der allgemeine Wissensstand zum Zweiten Weltkrieg und zur deutschen Besatzung in Ostmitteleuropa eingeschätzt werden kann und aus welchen Quellen sich der teils verdeckte bzw. verdrängte Wissensschatz speist.

 

Historische Wissensstände

Es kann davon ausgegangen werden, dass es bereits seit dem Ersten Weltkrieg und vor allem seit der deutschen Besatzung Polens und der westlichen Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges in deutschen Familien ein untergründiges, teils verschüttetes und überlagertes Wissen über diesen Raum gibt, das jedoch anlassbezogen immer wieder zutage tritt und (ge-)treten wird. Neben einem allgemeinen Wissen lenkt das Interesse am östlichen Europa, das seit dem 24. Februar 2022 angewachsen ist, den Blick vielleicht auch auf die eigene Familiengeschichte. »Ein gewisser Aufbruch des Interesses an den Lebenswegen eigener Großeltern hat also auch die Chance, dass die Orte der Verbrechen im östlichen Europa wieder sichtbarer werden«, schreiben Katja Makhotina und Franziska Davies in ihrem Buch »Offene Wunden Osteuropas«.[1]

Nicht alle Ausformungen des genannten Zusammenhangs können als verdeckt betrachtet werden. Verbreitete familiäre Erzählungen über das östliche Europa stammen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges häufig von zwangsausgesiedelten und geflohenen Angehörigen der deutschen Minderheiten aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern wie auch aus der Sowjetunion (Wolgadeutsche, Schwarzmeerdeutsche; auch: Siedler:innen). Eklatant wenig bekannt ist hingegen über die Gewalt, die von Deutschen sowie ihren Verbündeten und Assoziierten im östlichen Europa verübt wurde – und dies obwohl die Gewalt der Wehrmacht seit den 1990er Jahren unter anderem durch zwei »Wehrmachtsausstellungen« stärker thematisiert wurde. Auf dieses mangelnde Wissen lassen Studien schließen, die das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld zwischen 2018 und 2022 durchgeführt hat.

Zum einen lassen die Ergebnisse der repräsentativen Meinungsumfrage erkennen, dass die Befragten die Mitglieder der NS-Gesellschaft überwiegend nicht als Täter:innen, sondern eher als Helfer:innen von Verfolgten bzw. Opfer des Nationalsozialismus erinnern.[2] Zum anderen scheint der Zweite Weltkrieg bis heute nicht mit den am meisten von Massengewalt und Zerstörungen betroffenen Regionen Europas assoziiert zu werden. Dies ergibt sich aus den Antworten auf die Frage »Welche drei europäischen Länder, abgesehen von Deutschland, verbinden Sie persönlich am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg?«: Nur 1 Prozent der Befragten gaben die Ukraine als ein Land an, das sie persönlich am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden, 0,1 Prozent Belarus, ebenfalls 0,1 Prozent Litauen und 0,2 Prozent Lettland – während 36,3 Prozent Russland nannten. Bemerkenswert ist jedoch, dass unter »weiteren Nennungen« – faktisch durchaus korrekt – die Sowjetunion mit 8,1 Prozent auftaucht – allerdings scheint nur im Fall Russlands am ehesten ein Zusammenhang zu den heutigen unabhängigen Ländern der ehemaligen UdSSR hergestellt zu werden. Ersichtlich wird nicht nur, dass die Befragten annehmen, von allen Ländern der ehemaligen Sowjetunion hätte das heutige Russland die größte Last des Krieges und der NS-Besatzungsherrschaft getragen. Wenn dazu im Vergleich 74,9 Prozent Frankreich nennen, lässt sich vermuten, dass das Ausmaß der NS-Gewalt im östlichen Europa bis heute in der deutschen Gesellschaft kaum bekannt ist. Ähnlich gering ist die Zahl derer, die eines oder mehrere der genannten Länder bereist haben.[3]

So ist das Bild, das man sich in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit von NS-Verfolgten macht, bis heute bisweilen extrem verengt. Es orientiert sich an Fixpunkten wie Auschwitz oder Anne Frank und beinhaltet meist die Attribute Wehrlosigkeit und Versöhnungsbereitschaft – obwohl es entgegen dem deutschen Selbstbild durchaus Beispiele der Wehrhaftigkeit und des Verlangens nach Rache gäbe.[4] Dass die allermeisten ermordeten Jüdinnen und Juden nicht aus dem Deutschen Reich kamen, sondern aus den Schtetl und Städten auf dem Gebiet der weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepubliken und des Baltikums,[5] findet ähnlich langsam Eingang in den Erinnerungskanon wie der Umstand, dass über 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden vor Ort erschossen wurden, über eine Million von ihnen in der heutigen Ukraine. Forschende weisen zudem seit einigen Jahren vermehrt auf weitere Gruppen von Betroffenen der NS-Gewalt hin wie die der verbrannten Dörfer, Sinti und Roma, die sowjetischen Kriegsgefangenen oder die Opfer von Krankenmorden.

Ein markantes Beispiel für dieses Nicht-Wissen ist der Auftritt des Sozialpsychologen Harald Welzer – bekannt für die von ihm mit herausgegebene Studie »Opa war kein Nazi«[6] – in einer Talkshow mit Andrij Melnyk, dem damaligen Botschafter der Ukraine, eines Landes mit hohen Opferzahlen im Holocaust und unter deutscher Besatzung: Mit erhobenem Zeigefinger forderte Welzer vehement, ihm »zuzuhören«. Er argumentierte gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, indem er von den deutschen Erfahrungen mit dem Zweiten Weltkrieg sprach – offensichtlich ohne die vielfältigen Erfahrungen in der Ukraine zu reflektieren, zu denen die Opfer von Holocaust und brutalen Vergeltungsmaßnahmen gegen Dörfer in Partisanengebieten zählen, die Opfer der Mittäter:innen und Helfer:innen der deutschen Besatzer und sechs bis sieben Millionen Rotarmist:innen. Der Journalist Filipp Piatov äußerte am 2. Juli 2022 bezüglich der Debatte über Melnyk: »Bald wissen viele Deutsche mehr über [Stepan] Bandera[7] als über ihre eigenen Großväter.«

Diese Beispiele deuten auf erhebliche Wissensdefizite selbst bei Intellektuellen, die sich mit dem »Dritten Reich« und deutscher Erinnerungskultur befasst haben, hin. In Deutschland bietet der familiäre Rahmen dabei vielfältige Möglichkeiten, sich diesen Lücken kritisch zu widmen.

 

Das Wissen des Zweiten Weltkrieges

Die Vorgeschichte des komplexen Verhältnisses zwischen Deutschland und der Ukraine wie auch Russland und der Sowjetunion – und damit familiärer Spuren – reichen bis in das frühe 20. Jahrhundert zurück.

Besonders tiefe Spuren, verursacht durch eine Vielzahl von Formen grausamer Massengewalt, hinterließen Deutsche und ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Teilen der UdSSR und in Polen. Millionen von Soldaten der Wehrmacht und der Waffen-SS kamen im Zuge des »Russlandfeldzuges« durch die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) oder verblieben dort zur »Sicherung« der Gebiete, also zum Aufbau der NS-Besatzungsherrschaft. Einsatzkommandos folgten seit dem Überfall auf Polen der Wehrmacht und ermordeten zunächst die polnische Elite und Offiziere der Roten Armee, dann systematisch Jüdinnen und Juden sowie Roma und weitere Gruppen.

Im Reichskommissariat Ukraine (RKU) wurde – wie in weiteren Reichskommissariaten – eine Zivilverwaltung eingerichtet, an der hunderttausende Deutsche mitwirkten. Sie agierten als General- und Gebietskommissare, als Polizisten und SS-/SD-Angehörige, als Mitarbeiter:innen der Deutschen Bahn oder LKW-Fahrer, als Schreibhelferinnen, Dolmetscher:innen und Krankenschwestern, als Stabshelferinnen der Wehrmacht, »volksdeutsche« Siedler:innen. Sie arbeiteten in Arbeitsämtern, für die Volksdeutsche Mittelstelle (VoMi) oder kamen als Ehefrauen und Kinder von Besatzern in die Ukraine. Viele von ihnen hinterließen Spuren, von denen einige bis heute nachvollziehbar sind. Nicht immer lassen sich mit ihnen Biografien umfassend rekonstruieren und bei weitem nicht immer reichen die Kategorien »Opfer« und »Täter« aus, um die Personen zu klassifizieren – etwa im Falle von »Volksdeutschen«, die sich bei Kriegsende geweigert haben sollen, mit der Wehrmacht gen Westen zu ziehen, und dafür erschossen wurden.

Auch sind die vorhandenen Quellen meist lückenhaft überliefert, was teils auf die Kriegsteilnehmer:innen selbst zurückgeht: In der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges wurden Akten deutscher militärischer und ziviler Einrichtungen systematisch vernichtet. Verantwortlich waren hierfür beispielsweise die Reichsverteidigungskommissare, die das Reichsministerium des Inneren am 12. Oktober 1944 anwiesen, für den »Feind« potenziell interessante Akten bei dessen drohendem »Einbruch« zu zerstören. Nicht immer waren sie bei der Umsetzung dieser Aufgabe erfolgreich. Auch Zeug:innen des Massenmords wurden bis zum Ende verfolgt; zudem öffneten im Rahmen der »Aktion 1005« dafür zusammengestellte Sonderkommandos Massengräber, um die dort verscharrten Leichen systematisch zu verbrennen.

Bei einem Luftangriff der britischen Royal Air Force im April 1945 wurden die historischen Unterlagen des Heeresarchivs in Potsdam fast vollständig vernichtet. Allerdings waren die Kriegstagebücher der Wehrmacht teilweise ausgelagert worden und sind somit erhalten geblieben. Beuteakten der alliierten Mächte befinden sich heute weltweit verstreut in verschiedenen Archiven und sind unterschiedlich gut zugänglich. Der Zugriff auf die zahlreichen Bestände der Russländischen Föderation dürfte aufgrund des Krieges gegen die Ukraine auf viele Jahre unmöglich sein.[8]

Der Krieg gegen die Sowjetunion wurde von denen, die ihn führten, auch als Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei verstanden. Den Glauben an die Rückständigkeit der sowjetischen Gebiete und das propagandistische Bild des »Untermenschen« sahen viele Soldaten während der Eroberungen bestätigt – teils hatten sie diese Bilder, wie im Falle der dem Hungertod überlassenen und somit ungewaschen und abgerissen aussehenden sowjetischen Kriegsgefangenen, selbst hervorgerufen. Viele Besatzer nutzten »Russland« als Synonym für die Sowjetunion, in dem verschiedene ideologische Ansichten aufgehen konnten: »Sowjetstaat, Asien, Raum, ungeahnte Möglichkeiten, tönerner Koloss, Dampfwalze, Slawen, Nationalitäten, dumpfe Masse, Kulturlosigkeit, Bolschewismus.«[9] Dieser koloniale Blick auf »den Osten«, der nicht zuletzt Herablassung, Eroberung, Ausbeutung und Vernichtung durch das »Dritte Reich« und seine Soldaten legitimierte, ist etwa vielfach anhand von Fotos und ihren Beschriftungen aus Familienbeständen ablesbar. In einem Dokument der Operationsabteilung im Oberkommando des Heeres der Wehrmacht schreibt etwa der Oberleutnant Rudolf Spohr: »Man müsste dem Landser einen Teil seines Wehrsoldes in Lebensgütern auszahlen, z.B. Knöpfe, Kämme, Spiegel, Streichhölzer, Glasperlen, kurz alle solche Dinge, mit denen diese Menschen, denen man etwas Positives in die Hand geben will, auch etwas anfangen können.«[10]

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LKWs auf einem Fluss

Eindrücke eines Wehrmachtssoldaten aus der Ukraine. Album aus
Familienbesitz © Stefanie Hardick

Traditionslinien

Die Ukraine heute unter Russland zu subsumieren, spielt nicht nur der imperialen Logik der russischen Staatsführung in die Hände, sondern schreibt die Wahrnehmungsmuster vieler NS-Besatzer fort. Es handelt sich hierbei nicht lediglich um eine semantische Ungenauigkeit, sondern um die Negation von Komplexität in den Gesellschaften des östlichen Europas. Für die meisten deutschen Soldaten und Beamten waren die Einwohner:innen der besetzten Gebiete unisono »die Russen«.

Ebenso ist davon auszugehen, dass Wissen über die Ukraine nicht automatisch von Allmachtsfantasien und imperial-kolonialen Bestrebungen befreit ist. Das haben unter anderem die »Ostexperten« unter den Nationalsozialisten bewiesen. Diese waren vor allem im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete um den baltendeutschen und in Moskau studierten Ideologen Alfred Rosenberg angesiedelt und sprachen sich mitunter für eine Stärkung partikularer Nationalismen – etwa des ukrainischen – aus, um diese gegen den »tönernen Koloss« Russland in Stellung zu bringen. Ihre sprachliche und kulturelle Expertise – unter ihnen waren besonders viele Baltendeutsche – setzten sie mit dem Ziel ein, ihre brutale Ausbeutungs- und Besatzungsherrschaft im östlichen Europa zu stützen und gleichzeitig Russland durch Zerstückelung des Raumes zu schwächen (oder wahlweise vom vermeintlichen jüdischen Einfluss zu »befreien«). Durchsetzen konnten sich Rosenberg und sein Umfeld damit gegen seine Widersacher wie den Reichskommissar Ukraine Erich Koch und den Reichsführer SS Heinrich Himmler, die eine rücksichtslose, brutale Ausbeutung forderten, nicht.

Während Deutsche die Ukraine besetzten und teils über mehrere Jahre dort zubrachten, wurden Millionen von Ukrainer:innen meist zwangsweise nach Deutschland verbracht und mussten dort arbeiten. Etwa drei Millionen sogenannte Ostarbeiter (darunter über die Hälfte Ukrainer:innen) machten nach ihrer Verschleppung – mal mehr, mal weniger grausame – Erfahrungen im Deutschen Reich, etwa in der Schwerindustrie, aber auch in Familienbetrieben und auf Bauernhöfen. Viele deutsche Verantwortliche der Wehrmacht, der Zivilverwaltung oder der Arbeitsämter, aber auch »einfache Deutsche« einte bei allen Differenzen grundsätzlich die Auffassung, man sei im Recht, Ukrainer:innen rücksichtslos auszubeuten und im Zweifel für dieses Mittel auch Gewalt einzusetzen.

Nach dem Krieg entstanden sogenannte Russenviertel, und längst nicht alle konnten oder wollten in die Sowjetunion zurückkehren, auch weil ihnen dort vielfach Verfolgung drohte. Einige bauten sich in Deutschland ein neues Leben auf – meist unter erschwerten Bedingungen und massivem antislawischen Rassismus, wie es die Schriftstellerin Natascha Wodin in ihren Büchern beschreibt.[11]

Auch über die Zwangsarbeitenden wurde nicht einfach »geschwiegen«, sondern es entwickelten sich »alltägliche, mündliche und habituelle Kommunikationsformen« der Verarbeitung, so die Politikwissenschaftlerin Angelika Laumer.[12] Anhand vieler firmeneigener sowie staatlicher Archive lässt sich die Inanspruchnahme von Zwangsarbeit häufig nachvollziehen.

Materielle Hinterlassenschaften können Einblicke in eine mit dem östlichen Europa verbundene Vergangenheit liefern. Oftmals sind es die vielzitierten »Dachbodenfunde«, die dem Ableben der Vorfahren folgen. Fotoalben, Schriftstücke, Tagebücher und offizielle Dokumente, Rentenunterlagen (etwa mit Nachweisen zur Tätigkeit in Wehrmacht und Waffen-SS) oder Briefe sind mit ukrainischen Ortsnamen oder gar Beschreibungen der Besatzungszeit versehen. Teils geben sie Rätsel auf, teils liefern sie direkte Hinweise auf das Handeln und Erleben der Vorfahren.

So schrieb etwa ein junger Infanterist der Wehrmacht im September 1943 in einem Brief an seine Ehefrau über eine Situation am Fluss Dnipro: »Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Flusses brennt alles bereits seit Tagen lichterloh, denn Du mußt wissen, daß alle Städte und Dörfer in jenen Gebieten, die wir jetzt räumen, in Brand gesteckt werden, auch das kleinste Haus im Dorf muß fallen. Alle großen Gebäude werden gesprengt. Der Russe soll nichts mehr als ein Trümmerfeld vorfinden. Jede Unterbringungsmöglichkeiten für Truppen wird ihm genommen dadurch. Es ist also ein grausig schönes Bild.«[13]

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Soldaten auf einer Straße

Eindrücke eines Wehrmachtssoldaten aus der Ukraine. Album aus
Familienbesitz © Stefanie Hardick

Derlei Relikte können teils mit wenig Aufwand ergänzt werden durch Archivauskünfte und -recherchen. Militärische Laufbahnen der Abteilung PA (Bundesarchiv), von der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt; auch: Deutsche Dienststelle) angelegte Karteikarten der Erkennungsmarkenverzeichnisse und Erwähnungen in Ermittlungsakten zählen zu den Dokumenten, die besonders häufig Anhaltspunkte liefern. Soldaten erhielten Orden, die in Wohnzimmern wieder auftauchen, für Verwundungen erhielten sie Zusatzrenten von den Versorgungsämtern – wenn sie dies nachweisen konnten.

Dokumente zur Kriegsgefangenschaft deutscher Soldaten und zur Internierung in sowjetischen Speziallagern oder britischen, amerikanischen oder französischen Camps enthalten mitunter nützliche Spuren. Die zahlreichen Akten der »Entnazifizierung« bzw. der Spruchkammerverfahren bieten Einblicke in die Selbsterzählungen wie taktischen Narrative der NS- bzw. postnationalsozialistischen Gesellschaft.[14] Auch werden Verantwortlichkeiten und Schauplätze häufig benannt. Besonders in der späteren Kriegsphase starben massenweise deutsche Soldaten auf dem Territorium der Ukraine und viele ihrer Leichname verblieben dort; häufig ist dies über die Gräbersuche des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge nachvollziehbar.

In den familiär tradierten Geschichten über den Nationalsozialismus kommt der osteuropäische und ostmitteleuropäische Raum zwar seltener vor, aber auch diese können Hinweise enthalten. Neben der konkreten Erwähnung von Orten und Tätigkeiten sind es auch die weitergetragenen Ressentiments gegenüber der slawischen Bevölkerung oder die Romantisierung des »Ostens«, die durch manche Familienerzählungen erfahrbar werden.

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Weiße Seiten

Einsatzorte eines Soldaten der Wehrmacht aus seiner Personalakte,
BArch PERS 6/251262

Schluss

Bis heute entsteht im Erinnern an den Nationalsozialismus in Deutschland immer dann Unbehagen, wenn aus Allgemeinplätzen konkrete Verflechtungsgeschichten werden, aus denen Verantwortlichkeiten erwachsen. Wissen über das Handeln der eigenen Vorfahren, Vereinsmitglieder oder Kolleg:innen während des Nationalsozialismus ist bis heute wenig verbreitet.

Die Verantwortlichen selbst haben nicht nur geschwiegen, sondern oftmals aktiv dafür gesorgt, dass ihre Version der Geschichte erzählt wurde, während andere Aspekte ihres Handelns verdrängt wurden. Dies gilt auch für bundesrepublikanische Intellektuelle und ihre Familien. Um nicht über die eigene Rolle im Nationalsozialismus zu sprechen, konstruierten sie – mithilfe der politischen Stimmung im Kalten Krieg – eine fort- und festgeschriebene Fremdheit zum östlichen Europa. Ihre Nachfahren haben diese Narrative teilweise zementiert, indem sie auf kritische Nachfragen verzichteten; andere kündigten diese Form der Komplizenschaft auf.

Recherchen können ein Korrektiv sein, das dazu beiträgt, Mythen und Auslassungen, die an die Stelle von Fakten getreten sind, ebenso wie gefühlte Verortungen (»Meine Verwandten waren im Widerstand«) zu hinterfragen. Sie bieten die Möglichkeit, sich mit sich selbst, dem eigenen Umfeld, aber auch mit gesellschaftlichen Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen – sofern denn entsprechende persönliche Bezüge bestehen –, sich also zu emanzipieren. Der familiäre Rahmen prägt die Menschen auf besondere Weise, er bietet auch eine gute Voraussetzung für Recherchen: Nachfahren finden nicht nur immer wieder historisches Material auf, sondern haben auch das Recht, entsprechende Archivalien einzusehen. Das reine Anhäufen von Wissen birgt kein emanzipatorisches Potenzial per se in sich, sondern dieses Wissen sollte kritisch reflektiert werden. Dazu gehört, den kolonialen Blick auf das östliche Europa herauszufordern. In den heutigen, eingangs genannten Begegnungen können sich diese Prägungen – auch unbewusst und affektiv – niederschlagen.

Die Bezüge herzustellen ist auch lohnenswert, um das historisch gewachsene asymmetrische Verhältnis zwischen Deutschland und der Ukraine besser zu verstehen. Die materiellen Realitäten der Gegenwart können durch konkretes Wissen zu den damals vor Ort verübten Zerstörungen ins Verhältnis gesetzt werden. Letztendlich sind es auch ideologische Kontinuitäten wie der Antislawismus, die sich anhand der eigenen Familiengeschichte mitunter veranschaulichen lassen.

 

Anmerkungen

[1] Franziska Davies/Katja Makhotina: Offene Wunden Osteuropas. Reise zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs, Darmstadt 2022, 16. Vgl. hierzu auch Peter Carstens Rezension, in: zeitgeschichte | online, 01.09.2022, https://zeitgeschichte-online.de/node/60151 [05.09.2023].

[2] Michael Papendick/Jonas Rees/Franziska Wäschle/Andreas Zick: Multidimensionaler Erinnerungsmonitor (MEMO) III/2020. Forschungsbericht Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) Universität Bielefeld 2020. (siehe auch die gleichnamige Studie von 2018).

[3] Dies.: Multidimensionaler Erinnerungsmonitor (MEMO) V/2022. Forschungsbericht Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) Universität Bielefeld 2022, 14 u. 17.

[4] Vgl. Achim Doerfer: »Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen«. Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung, Köln 2021.

[5] Diese Gebiete entsprechen dem ehemaligen sogenannten Ansiedlungsrayon im Russischen Zarenreich. Jüdinnen und Juden durften nur mit Sondergenehmigung jenseits dieses Ansiedlungsrayons leben und arbeiten.

[6] Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall: Opa war kein Nazi, Frankfurt a.M. 2002.

[7] Der Beteiligung des Nationalistenführers und antisemitischen Aktivisten Stepan Bandera an NS-Gewalthandlungen wurde von Andrij Melnyk wiederholt öffentlich relativiert.

[8] Das Digitalisierungsprojekt »German Docs in Russia« hat seit 2011 mit der Bereitstellung einer großen Anzahl deutscher »Beuteakten« der Forschung einen bedeutenden Schub gegeben. Vgl. https://wwii.germandocsinrussia.org [05.09.2023].

[9] Jürgen Förster: Zum Rußlandbild der Militärs 1941–1945, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Rußlandbild im Dritten Reich, Köln 1994, 141–163. hier 141.

[10] Obtl. [Rudolf] Spohr: Bericht über die Reise vom 11.–13.9. [1942] zur Krim, Dokument in Familienbesitz.

[11] Die Forschung zu »Displaced Persons« beginnt derzeit erst, sich stärker zu entwickeln. Vgl. Tagungsbericht: Labeling and the Management of Displacement – Current Research on ›Displaced Persons‹ and ›Heimatlose Ausländer‹ in the Aftermath of World War II, in: H-Soz-Kult, 08.02.2022, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127860 [05.09.2023].

[12] Angelika Laumer: Logiken alltäglichen Erinnerns und Vergessens von NS- Zwangsarbeit in der ländlichen Gesellschaft. Eine wissenssoziologisch-empirische Studie, Dissertation Justus-Liebig-Universität Gießen, 2021), 103.

[13] Brief Albert Pretzel vom 21.9.1943, zit. n. Klaus Latzel: Deutsche Soldaten – nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis – Kriegserfahrung 1939–1945, Paderborn 1998, 155.

[14] Vgl. Hanne Leßau: Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit, Göttingen 2020.

 

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