24. Februar 2022: »Die Wirklichkeit ist angekommen …«

Von der Arbeit an der Lücke. Ein Vorwort

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Zeichnung eines durchgestrichenen Panzers auf blau-gelbem Grund

Zeichnung © Frieda Weixlbaumer, März 2022

18. Dezember 2023

 

»Die Wirklichkeit ist angekommen«, sagte Karl Schlögel am 27. Februar 2022 in der sonntäglichen Gesprächsrunde bei Anne Will.[1] Die Zeit sei vorbei, dass man uns Märchen erzählt. Gemeint war damit der unglaubliche »Russland- und Putin-Kitsch«, den Politiker:innen wie Sahra Wagenknecht, Gerhard Schröder oder Gregor Gysi bis heute verbreiten. Noch fünf Tage vor dem Beginn der Großinvasion am 24. Februar 2022 erklärte Schlögel, dieser exzellente und stets auf Verständigung bedachte Osteuropa-Historiker, auf den Angriffskrieg nicht gefasst gewesen zu sein. 

Dies traf auf sehr viele Osteuropahistoriker:innen zu, auch wenn sie sich über das System Putin wenig Illusionen gemacht hatten. Dennoch war der russische Angriffskrieg ein Schlüsselerlebnis für die meisten, selbst für jene, die sich seit Jahren mit dieser Region beschäftigt haben. Allen voran natürlich für unsere ukrainischen Kolleg:innen, die sich nun zusammen mit ihren Familien und ihren Freunden unter Beschuss befanden. Viele mussten fliehen oder gingen an die Front. Sie waren im ganz wörtlichen Sinne im Kriegszustand. 

Das Gefühl der Hilflosigkeit übertrug sich auch auf uns. Zahlreiche Kolleg:innen engagierten sich für Geflüchtete und für Wissenschaftler:innen in der Ukraine. Zudem stellten sie sich die Frage: Was können wir als Historiker:innen tun?  Dieser Band gibt erste Antworten auf diese Frage. Er basiert auf einem Dossier auf dem Portal zeitgeschichte | online.[2] Wir begannen nur wenige Tage nach Kriegsbeginn, Beiträge von deutschen, ukrainischen, polnischen, US-amerikanischen, belarussischen, georgischen und auch russischen Kolleg:innen zu veröffentlichen. Erschienen im ersten Monat im Jahr 2022 bis zu fünf Texte pro Woche, so sind die Abstände zwischen den Veröffentlichungen mittlerweile größer geworden. Das E-Book markiert den Charakter der hier versammelten Texte noch einmal: als Quellenkorpus dazu, wie Historiker:innen auf den Krieg und die damit verbundenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in Deutschland und international reagiert haben. Wir arbeiten weiter am Dossier und werden es nicht schließen. 

Der Band bildet unterschiedliche Dimensionen einer Diskussion ab, die durch die russische Großinvasion ausgelöst wurde. Und er adressiert eine Reihe von »toten Winkeln« in den Debatten über den Krieg hierzulande. Unsere Kollegin Kateryna Chernii machte in einer hochemotionalen Diskussionsrunde, die nur wenige Tage nach Beginn der Invasion am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung stattfand, deutlich, wie spärlich hierzulande das Wissen über die Geschichte der Ukraine ist. 

Nachdem in den letzten Jahren Osteuropa-Lehrstühle in Deutschland bis hin zu einzelnen kompletten »Abwicklungen« kaputtgespart wurden, stehen wir vor großen Wissenslücken in der breiten Öffentlichkeit. Vor allem gibt es kaum einen Bezug zur Ukraine, ihrer Geschichte und ihrer Entwicklung vor und nach dem Unabhängigkeitsreferendum im Dezember 1991 – und das trotz der erhöhten Aufmerksamkeit, die der Euromaidan 2013/14 und vor allem die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 sowie der angeblich durch lokalen Volkswillen befeuerte Krieg in der Ostukraine generiert hatten.

Gleichzeitig werden zur Erklärung dieses Kriegs bis heute immer wieder historische Parallelen herangezogen: die Kubakrise von 1962, die Appeasement-Politik des Westens in den 1930er Jahren, die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956. Die Liste ließe sich verlängern. Zudem kursieren seit dem 24. Februar 2022 (wieder) diverse Rechtfertigungserklärungen für den russischen Angriff in deutschen Debatten. Wie lässt sich das erklären? 

»Die Russen« mit »den Sowjets« zu verwechseln hat Tradition – ganz so, als gäbe es keine anderen ethnischen Gruppen auf den Territorien, die einst die Union national definierter, de facto aber multiethnischer Sowjetrepubliken ausmachten. Zugleich tauchte wiederholt die Präventivkriegsthese auf, der zufolge sich Russland mit diesem völkerrechtswidrigen Krieg gegen eine Erweiterung der NATO gen Osten verteidige. Diese Entlastungserzählung ist ein beliebtes Argument in Talkshows und auf anderen populären Plattformen; und sie hält sich hartnäckig, als ob Russland das Opfer einer westlichen Verschwörung wäre und nicht der Aggressor in einem mit aller Grausamkeit geführten Angriffskrieg. Das politische Bemühen, Russland – trotz seiner brutalen Kriegsführung in Tschetschenien und Syrien, seines rechtswidrigen Einmarsches in Georgien im Jahr 2008, seiner gezielten Destabilisierungspolitik in Ossetien und Moldawien und sogar noch nach der Annexion der Krim – in eine internationale Staatengemeinschaft einzubinden, hatte keinen Erfolg. 

Die Bestrebungen von Historiker:innen in den letzten Jahrzehnten, ein historisches Bewusstsein für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu vermitteln, das neben ostmittel- und südosteuropäischen auch die rund 27 Millionen sowjetischen Kriegsopfer stärker in das westeuropäische Blickfeld rückt, hat insofern zu wenig Aufmerksamkeit gefunden, als es den gesellschaftlichen Blick nach Osten nicht ausreichend hat differenzieren können. Denn das Argument, dass Deutschland mit Waffenlieferungen an die Ukraine nun wie im Zweiten Weltkrieg Waffen gegen »die Russen« einsetze, übersieht, dass die Kriegs- und Vernichtungspolitik des »Dritten Reiches« nicht allein »die« Russ:innen traf. Vielmehr hatte der deutsche Überfall auf die Sowjetunion seit dem Juni 1941 fatale Konsequenzen für alle sowjetischen Bürger:innen – an der Front, unter der Besatzung, im Hinterland: auch und vor allem für Juden und Jüdinnen, für Ukrainer:innen, für Belaruss:innen, für Tatar:innen, für Tschetschen:innen, für »Russlanddeutsche« und für Angehörige anderer Ethnien. 

Ebenso bleibt unbeachtet, dass der »Holocaust by Bullets« sich auf die besetzten Gebiete der Ukraine, Belarus’ sowie des Baltikums fokussierte, genauso wie der größte Teil der ca. 2,75 Millionen sogenannten Ostarbeiter:innen aus eben diesen Gebieten stammte. Und auch die Tatsache, dass es, neben den großen Schlachten wie jene um Stalingrad, vor allem die Besatzungspolitik der Wehrmacht war, die die Menschen tötete, ist nicht zu Allgemeinwissen geworden. Von den 20 Millionen Zivilist:innen, die durch den Krieg in der Sowjetunion umkamen, starben allein vier Millionen in der besetzten Ukraine. Doch die Gleichsetzung »der Sowjets« mit »den Russen« macht es offenbar schwer, sich mit Russlands gegenwärtiger Besatzungspolitik und ihren Parallelen auseinanderzusetzen.

Die Spezifik dieser Diskrepanz hat die Themen der im Dossier veröffentlichten Beiträge stark geprägt. Uns ging es vor allem darum, den Blick auf die Ukraine zu richten, die genauso wie andere Staaten durch die Sowjetzeit geprägt war, sich aber allein in den Jahren seit der Krim-Annexion rasant gewandelt hat. Es ging aber nicht nur um die Rolle des Zweiten Weltkriegs in der russischen Propaganda zur Großinvasion seit dem 24. Februar 2022, im deutschen Familiengedächtnis oder auch bei der sehr unterschiedlichen Bedeutung von Begriffen wie »Faschismus«, »Imperium« und »Totalitarismus«. Es galt zudem, den internationalen Kontext, darunter die Reaktionen der Nachbarstaaten, mit in den Blick zu nehmen, die Wahrnehmung verschiedener Gruppen zu thematisieren sowie die Rolle von Propaganda und Protest aufzuzeigen.

Das ist wenig angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in der Ukraine seit über zwei Jahren abspielen. Die heftigen Diskussionen um die russische Invasion legen vor allem Lücken und Schräglagen in Bezug auf das Russlandbild unterschiedlicher Gruppen in Deutschland offen und fordern somit eine Widerlegung und Klarstellung von Historiker:innen geradezu  heraus. Dementsprechend ist Russland oft Thema der Einzelbeiträge. Das Bemühen, ukrainische Autor:innen für das Dossier zu gewinnen, war nicht immer erfolgreich. Hier mag eine Rolle gespielt haben, dass das Dossier von einer DDR- und einer Kaukasusexpertin herausgegeben wird, die beide eine entsprechend gelagerte Vernetzung haben in einer ohnehin traditionell auf Russland fokussierten Osteuropaforschung. 

Der Krieg hat im Fach neben großem Entsetzen eine Grundsatzdiskussion ausgelöst über den Zuschnitt der Osteuropaforschung. Denn es stellt sich die Frage, wie der nahezu selbstverständliche Fokus auf Russland in der Historiografie wie in der institutionellen Aufstellung des Fachs dazu geführt hat, dass die russischen gegenüber den nicht-russischen Erfahrungen und Perspektiven überprivilegiert blieben und der imperiale Anspruch zu wenig reflektiert wurde.[3] Es bleibt abzuwarten, welche Einsichten sich mit der breiteren Nutzung der Archive an der vormaligen sowjetischen Peripherie ergeben werden, etwa in Tbilissi, Almaty, Riga oder eben der Ukraine. Bislang waren neben Expert:innen für die jeweiligen Peripherien nur wenige westliche Forscher:innen in diesen Archiven, um etwa übergeordnete Fragestellungen statt vom Machtzentrum in Moskau oder St. Petersburg nun grundsätzlich vom »Rande« her anzugehen. Vor allem aber wäre zu hoffen, dass die Einrichtung eines Ukraine-Zentrums an der Viadrina in Frankfurt (Oder) nur den Anfang einer weiteren institutionellen Diversifikation der Osteuropaforschung darstellt.

Die wenigen Ukraineexpert:innen sind seit Monaten vollkommen überlastet. Markant war und ist vor allem der Druck, den ukrainische Kolleg:innen spüren, wenn sie nun nicht nur um sich selbst, ihre Lieben und ihr Land bangen, sondern den Deutschen auch noch die Ukraine erklären müssen. Wir hoffen, dass sich das ändert. Auch wenn sich die Aufmerksamkeitsökonomien mit dem Andauern dieses Kriegs verschoben haben, brauchen wir weiterhin die historische Kontextualisierung des aktuellen Geschehens genauso wie eine Normalisierung des Interesses an der Spezifik, Diversität und Verflochtenheit der ukrainischen, der deutschen, der ost- und mitteleuropäischen Geschichte. 

Ein großer Dank geht an alle Autor:innen der bisherigen Beiträge. Wir freuen uns auf weitere Vorschläge und Gespräche. 

 

Anmerkungen

[1] Das Erste: Anne Will: Putin führt Krieg in Europa – wie ist er zu stoppen?, Sendung vom 27.02.2022 in der ARD, https://www.daserste.de/information/talk/anne-will/sendung/putin-fuehrt-krieg-in-europa-wie-ist-er-zu-stoppen-100.html [10.11.2023].

[2] Annette Schuhmann/Maike Lehmann (Hg.): Die Wirklichkeit ist angekommen… Ein Dossier aus Anlass des russischen Überfalls auf die Ukraine, in: Zeitgeschichte-online, März 2022, https://zeitgeschichte-online.de/themen/die-wirklichkeit-ist-angekommen [10.11.2023].

[3] Vgl. u.a. Botakoz Kassymbekova/Erica Marat: Time to Question Russia’s Imperial Innocence, in: Ponars Eurasia Policy Memo No. 771 (April 2022), https://www.ponarseurasia.org/wp-content/uploads/2022/04/Pepm771_Marat-Kassymbekova_April2022.pdf [10.11.2023]. 

 

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