Wenn es Ernst wird

Mit Karl Schlögel im »Situation Room« der Zeitgeschichte

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Mann auf einem Podium

Karl Schlögel auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung, 18. Juni 2012. Foto: Stephan
Röhl (Heinrich-Böll-Stiftung), CC BY-SA 2.0 via Flickr 

14. März 2022

 

»Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen« – so hat Karl Schlögel sein 2015 veröffentlichtes Buch über die Ukraine betitelt.[1] Drei Punkte sind es, die den Band im März 2022 zu einer ebenso fesselnden wie aufwühlenden Lektüre machen, zum »Buch der Stunde« gar, wie es unlängst hieß.[2]

Erstens sind da die politischen Einschätzungen und Prognosen, die klingen, als entstammten sie unserer unmittelbaren Gegenwart. Zweitens faszinieren Schlögels Essays über (sowjet-)ukrainische Städte, die zwischen 1988 und 2015 verfasst wurden und die den größten Teil des Buches ausmachen. Manches von dem, was er etwa in Charkiw noch sah, in dieser »Stadt, die weiß, was auf dem Spiel steht und dass jederzeit alles verloren sein kann« (S. 181), ist jetzt bereits durch russische Raketen zerstört. Und drittens unterzieht er seine Doppelrolle als Historiker des sowjetischen Imperiums und teilnehmender Beobachter epochaler Zeitenwenden einer selbstkritischen Revision. Daran schließt sich die Frage an, was Zeithistorikerinnen und -historiker konkret tun können, wenn es ernst wird.

Nach der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine durch Russland im Jahr 2014 stand für Karl Schlögel nicht mehr und nicht weniger als die Existenz des ukrainischen Staates auf dem Spiel. Die ersten Sätze des Buches lauten:

»Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden.« (S. 9)

Auf der vorletzten Seite heißt es:

»Nun bekommen wir es mit einem Ernstfall zu tun, für den wir, was die dafür notwendigen Denkmittel und Verhaltensformen angeht, denkbar schlecht gerüstet sind, um von den praktischen Formen der Friedenssicherung, die auch militärische Wehrhaftigkeit einschließt, gar nicht zu reden.« (S. 289)

Wohl kaum jemand würde diesen Diagnosen heute widersprechen. Obgleich sie bereits vor Jahren formuliert wurden, scheinen sie einem der zahllosen Leitartikel der letzten Tage entnommen zu sein. Ihre Re-Lektüre wirft deshalb unweigerlich die Frage auf, warum die hier so eindringlich formulierten Herausforderungen und Bedrohungsszenarien für die Ukraine nicht längst fest im kollektiven Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit verankert waren. Man hätte um den aggressiven Charakter Putins wissen müssen, so liest man es momentan landauf, landab. Doch als Schlögel und andere davor warnten, wollten weite Teile der deutschen Politik und Öffentlichkeit nicht wahrhaben, welche Bedrohung sich in Russland formierte.

Schlögels mit Verve vorgetragenen Überlegungen wurden von den meisten ignoriert, von einigen gelobt und nur von den wenigsten ernst genommen.[3] Das lag zunächst am Buch selbst, dessen erster Teil über weite Strecken einer akribischen Selbstbefragung Schlögels gleicht. Er habe die Ukraine nicht auf seinem Horizont gehabt, sich mit ihrer Kultur und Geschichte nicht in angemessener Weise befasst. Nun aber, angesichts von Euromaidan und russischer Okkupation, sei für ihn die »Stunde der Wahrheit« gekommen. In einer kritischen Besprechung im Deutschlandfunk hieß es angesichts solcher Passagen, das Buch sei »ein Zeugnis der Desillusion – und der Empörung«, das in der »Form eines Vorwurfs, auch gegen sich selbst«, verfasst worden sei.[4]

Eine solche Deutung ließ außer Acht, worum es Schlögel eigentlich ging: Einerseits interessierte ihn die überraschende Rückkehr der Bedrohung im Europa des 21. Jahrhunderts: »Die Geschichtszeit meldete sich mit einem großen Knall zurück, unterbrach das Kontinuum der Zeit, individuelle Lebenszeit und Geschichtszeit traten mit einem Mal schroff und schmerzhaft auseinander. Wie soll man das beschreiben? […] Jedenfalls gab es einen Grund zu einer Beunruhigung, in der sich etwas zurückgemeldet hat, was früher einmal als ›unheimlich‹ bezeichnet wurde.« (S. 290).

Andererseits versuchte er sich an einer Neujustierung des Verhältnisses von russisch/sowjetischer und ukrainischer Geschichte. Letztere müsse in eigenem Recht betrachtet werden, denn: »Ukraine – das war bis vor kurzem im Horizont der meisten Deutschen nichts weiter als Hinterhof, Glacis, Einflusssphäre, Pufferzone und Objekt anderer, kein Subjekt, das eine eigene Vorstellung von seiner Geschichte hat und sein Leben einrichten kann, wie es will und wie es jeder anderen Nation zugestanden wird, ohne Wenn und Aber. Die geschichtliche Erfahrung der Völker zwischen Russland und Deutschland – Polen und Balten vor allem – gilt in diesem Diskurs immer noch wenig […]« (S. 38f.)

Doch 2015 interessierte sich in Deutschland kaum noch jemand ernsthaft für ukrainische Probleme. Das Jahr stand im Zeichen von »Wir schaffen das« und Flüchtlingskrise. Zudem waren Rohstoffgeschäfte mit Russland schon wenige Monate nach der Annexion der Krim wichtiger als der Bruch des Völkerrechts: Das fatale Projekt »Nord Stream 2« wurde im Herbst 2015 offiziell aus der Taufe gehoben. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit zu dieser Zeit von der Ukraine die Rede war, so ging es vor allem um die gescheiterten Minsker Abkommen, mit denen die Gewalt enden sollte. Vielen mochten auch noch die Berichte über Rechtsradikale und Nationalisten auf dem Majdan und in den Kampfverbänden in der Ostukraine präsent sein. Dass Schlögel in dieser Situation bedingungslos für die ukrainische Nation eintrat und sie als Teil des europäischen Projekts begriff, empfanden manche als unpassend und eindimensional. Anderen erschien der mitunter pathetische Ton seiner Ausführungen überzogen. Auch mir ging es so.

Wer mit den politischen Implikationen des Buches nichts anzufangen wusste, konnte »Entscheidung in Kiew« doch für die darin versammelten Annäherungen an urbane Räume, ihre Geschichte und Gegenwart loben. Die acht »Porträts ukrainischer Städte« entstammen drei unterschiedlichen Situationen ukrainischer – und damit europäischer – Geschichte: Je zwei wurden kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs beziehungsweise um die Jahrtausendwende verfasst. Die vier übrigen Texte entstanden im Nebeneinander von Krise und Aufbruch der Jahre 2014/15. In diesen Essays zeigt der Historiker Karl Schlögel sein ganzes Können.

Allerdings versteht man nach ihrer Lektüre auch, weshalb er unter Fachkolleg:innen eine (wenngleich bewunderte) Außenseiterposition einnimmt – und seine Bücher riesige Auflagen erfahren: Einerseits überwältigt er mit seiner Sprachkunst und der radikalen Subjektivität seiner Texte. Andererseits lässt er sich von seinem Gegenstand zuweilen derart mitreißen und faszinieren, dass er stellenweise nicht mehr als dessen Analytiker, sondern als sein Anwalt schreibt. Angesichts der Raketeneinschläge in Charkiw oder der drohenden Einschließung von Kyiv durch russische Truppen – ich schreibe dies am 5. März 2022 – gewinnen diese Texte nun an unmittelbarer Dringlichkeit. Ihre Lektüre vermittelt eine bedrückende Ahnung von den Ausmaßen kommender Katastrophen und Verluste.

Der Krieg Russlands in der Ukraine ist ein Epochenbruch von globaler Bedeutung, dessen Konsequenzen aus heutiger Perspektive unabsehbar sind. Was aber können Zeithistorikerinnen und -historiker in der Krise überhaupt tun? 2014/15 lautete Karl Schlögels Antwort auf diese Frage: Man muss zumindest versuchen, mit den Ereignissen Schritt zu halten. Moralisch verpflichtet aber ist man, Partei zu ergreifen. Er selbst hält es bis heute nicht anders.

Was bedeutet das nun konkret und übersetzt in die Realität des Jahres 2022? Zunächst einmal ist evident, dass Historikerinnen und Historiker gefordert sind, die Ereignisse einzuordnen, historische Kontexte zu erklären und – wo immer nötig – Verzerrungen und Lügen entgegenzutreten. Die Medien und Öffentlichkeiten, in denen sie dies tun, sind verschieden. Das können Fernsehsendungen, aber auch Diskussionen mit Schulklassen sein.[5] Hinzu kommt, darauf hat etwa der Historiker Florian Peters unlängst hingewiesen, die Notwendigkeit, jetzt Quellenüberlieferungen für spätere Analysen anzulegen. Videos, Einträge auf Social Media, Blogposts und Chatverläufe; dies sind die Materialien, anhand derer eine Geschichte dieses Krieges geschrieben werden muss.[6]

Zudem: Das kulturelle und historische Erbe der Ukraine ist bedroht, wenn Bibliotheken und Archive durch den Krieg in Mitleidenschaft gezogen werden. Momentan formieren sich globale Initiativen, um davon so viel wie möglich zu sichern. Jede helfende Hand wird dabei gebraucht.[7] Vor allem aber geht es jetzt um die Kolleginnen und Kollegen aus Charkiw, Kyiv oder L’viv, die aufgrund des Krieges ihre Heimat verlassen müssen. Sie brauchen Perspektiven, um ihre Arbeit fortzusetzen. Gleiches gilt auch für jene, die in diesen Tagen Russland und Belarus den Rücken kehren, weil sie nicht länger »mit der Lüge leben« können. Hier ist konkrete Unterstützung gefordert, sowohl in Form unkomplizierter Fellowships und Stipendien, wie sie momentan vielerorts entstehen, als auch mit langfristig angelegten Programmen.[8] Und obwohl die meisten institutionellen Kooperationen mit russischen Wissenschaftsinstitutionen und Universitäten unterbrochen sind, dürfen die Kooperationen mit unseren Kolleginnen und Kollegen in Russland nicht enden. Gerade jetzt ist unsere Solidarität besonders wichtig.[9]

All solche Aktivitäten sind relevant, doch ihr Erfolg ist ungewiss. Denn: »Dem Aufbau einer Gegenwehr gegen den von außen geschürten Krieg geht eine lange und qualvolle Zeit der Destabilisierung, der Fragmentierung, der Atomisierung voraus. Die Destabilisierung ist die Zeit des Übergangs in ein anderes Europa. Ob wir sie aushalten, ob wir sie durchstehen?« (S. 17).

Diese letzte Frage Karl Schlögels ist heute aktueller denn je.

Die Antwort darauf ist Hoffnung.

 

Anmerkungen

[1] Karl Schlögel: Entscheidung in Kiew, Berlin 2015.

[2] Arno Widmann: Karl Schlögel. »Entscheidung in Kiew« – Die Chronik eines angekündigten Todes, in: Frankfurter Rundschau, 01.03.2022, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/karl-schloegel-entscheidung-in-kiew-die-chronik-eines-angekuendigten-todes-91381527.html [05.09.2023].

[3] Ausweislich des Portals »Perlentaucher« erschienen 2015 lediglich in zwei großen deutschen Tageszeitungen (FAZ und Welt) Rezensionen des Buches: https://www.perlentaucher.de/buch/karl-schloegel/entscheidung-in-kiew.html [05.09.2023].

[4] Katharina Döbler: Ein Zeugnis der Desillusion, in: Dlf, 24.09.2015, https://www.deutschlandfunkkultur.de/karl-schoegel-entscheidung-in-kiew-ein-zeugnis-der-100.html [05.09.2023].

[5] Das Zentrum für Zeithistorische Forschung bietet Diskussionen für Schulklassen zum Krieg in der Ukraine an: https://zzf-potsdam.de/forschung/news/angebot-fur-lehrkrafte-schulklassen-gesprache [05.09.2023].

[6] Florian Peters: Russlands Überfall auf die Ukraine – eine Zeitenwende? in: zeitgeschichte | online, März 2022, https://zeitgeschichte-online.de/themen/russlands-ueberfall-auf-die-ukraine-eine-zeitenwende [05.09.2023]. Wie eine Datensammlung laufender Ereignisse aussehen könnte, zeigt etwa das »Coronaarchiv«, das laut eigener Aussage »zu einer der weltweit größten digitalen Sammlungen zur Pandemie« wurde: https://coronarchiv.blogs.uni-hamburg.de/projekt  [05.09.2023].

[7] Zentral für solche Versuche ist das Projekt »Saving Ukrainian Cultural Heritage Online (SUCHO)«, https://www.sucho.org [05.09.2023].

[8] Eine laufend erweiterte Übersicht zu Unterstützungsangeboten bietet etwa das Portal »Osmikon«: https://www.osmikon.de/ [05.09.2023].

[9] Viele russische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben sich öffentlich gegen den Krieg ausgesprochen: Robert Kindler: Russlands Wissenschaftler*innen protestieren. Offene Briefe gegen den Krieg, in: zeitgeschichte | online, März 2022, https://zeitgeschichte-online.de/themen/russlands-wissenschaftlerinnen-protestieren [5.3.2022].

 

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