Abstract
Geschichtszeichen gehen von einer gewissen geografischen oder historischen Ferne aus, von der man ein Ereignis (z.B. die Französische Revolution von Königsberg aus) betrachtet und als erhabenes Zeichen eines Wendepunkts in der Geschichte begreift. 1940 veröffentlichte der Militärhistoriker Felix Hartlaub seine Dissertation: »Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto«. Hierin konstruiert er die Seeschlacht der siegreichen Abwehr des Osmanischen Reichs im Jahr 1571 als Geschichtszeichen. Doch während seiner Tätigkeit als Kriegstagebuchschreiber im »Führerhauptquartier Wolfsschanze« (1943-1944) erlebte er das Militär aus zu großer Nähe, sodass der Geist seines Heldenepos in den letzten Jahren des Krieges von seiner Erfahrung im Oberkommando der Wehrmacht (OKW) regelrecht zerschreddert wurde. Die Neuausgabe seines »Lepanto«-Buchs erfährt in den letzten Jahren eine große Resonanz im Lager der Neuen Rechten. Man geht auf Tuchfühlung mit einem Geschichtszeichen, von dem man sich eine mythische Ausstrahlung erhofft.
Nähe und Ferne historischer Ereignisse. Das Problem des Anachronismus
Jeder Versuch, ein historisch fernes Ereignis zu vergegenwärtigen, es als authentische Widerfahrnis spürbar zu machen, trifft unweigerlich auf das Problem des Anachronismus, das heißt, er hat mit der Versuchung zu kämpfen, aktuelle Denkmodelle in die Vergangenheit zu projizieren. So ergeht es auch dem von ZDF und Spiegel TV produzierten Dokumentarfilm Tauchfahrt in die Vergangenheit: Die Seeschlacht von Lepanto, in dem Regisseur Marc Brasse eine Expedition auf der Suche nach Überresten der Schlacht begleitet, unterstützt durch aufwändige 3D-Animationen, die der möglichst detailgetreuen Rekonstruktion damaliger Ereignisse dienen sollen (Deutschland 2002, Regie: Marc Brasse). Marc Brasses filmische Rekonstruktion der Seeschlacht von Lepanto zieht alle Register des Akustischen, Visuellen und Haptischen, verbunden mit Diskursen heutiger Gelehrsamkeit, um uns ein Ereignis, von dem wir 400 Jahre getrennt sind, auf den Leib zu rücken, uns zu berühren.[1]
Die Bilder und Diskurse rücken die Gegenstände, die einmal die Haut, Affekte und den Willen unmittelbar berührten (das Wasser des Mittelmeers, die Schreie der Kämpfer, der Ton zersplitternder Schiffsplanken), in die Distanz des Mediums. Aber alle symbolischen Formen der Bilder und der Sprache haben nach Ernst Cassirer die merkwürdige Eigenschaft, dass der Mensch sie erschaffen hat, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich eben in dieser Trennung umso fester mit ihr zu verbinden (Lethen 2006, 76). So erschließen auch Marc Brasses Filmbilder der Vergangenheit ein Reich der Imagination, in der aktuelle Erfahrungen des Leibes und der Welt in bestimmten Formen in Erscheinung treten. Es ist ihr magischer Effekt, dass sie sich im Distanzmedium der Filmbilder umso fester mit der Welt verbinden. Damit dieser Vorgang seine Unheimlichkeit verliert, versieht man ihn mit Kommentaren von Experten. Historiker authentifizieren das Wasserreich der Imagination auch in diesem Fall.
Der Film beginnt sehr ungewöhnlich.[2] Er nimmt die Zuschauer*innen mit in eine Unterwasserwelt, in der auch der Dichter Miguel de Cervantes seinen Tod in der Schlacht hätte finden können. Er entkommt diesem Schicksal und kann so bezeugen, dass in diesem Kampf der Tod üblicher als das Überleben war, was von einem italienischen Experten aufgrund von Archivbefunden bestätigt wird. An der Eingangspforte zum Authentischen der Darstellung stehen also als Portalfiguren drei Wissende: Miguel de Cervantes, Admiral a.D. Tiberio Morro, Leiter des italienischen Militärarchivs, und der türkische Historiker İdris Bostan.
Von der Trockenheit des Archivs taucht die Kamera wieder ins Mittelmeer; denn die Unterwasserarchäologie hat endlich Überreste der Seeschlacht finden können. Das Mittelmeer ist wirklich »eine maritime Schatztruhe der Geschichte«, verkündet der Kommentar, und wir können es miterleben. Auf jeden Fall will uns der Film erst einmal vom sprichwörtlichen Staub der Archive erlösen. Und wenn er sofort ins Wasser taucht, kann er damit rechnen, dass für heutige Zuschauer*innen das Wasser des Mittelmeers mit dem Schrecken des Wissens um die ertrunkenen Flüchtlinge assoziiert werden kann. Der Soundtrack überflutet sowieso die Bilderwelt. Musik soll das unwiederbringlich Verflossene als Atmosphäre, in der sich Gegenwart und Vergangenheit mischen, zurückholen. Wie in vielen Filmen soll das Akustische das Haptische des Ereignisses spüren lassen.
So projiziert der Film Zeitgenössisches in die Vergangenheit. Macht er sich des Anachronismus schuldig? Dieser wird in der Geschichtswissenschaft normalerweise als Fehlerquelle behandelt, als eine Operation, die die chronologische Ordnung der Ereignisse durcheinanderbringt. In den Diskussionen der letzten Jahrzehnte ging es dabei vor allem um die Zulässigkeit des Imports von aktuellen Denkmodellen in Epochen, in der sie nicht hätten gedacht werden können. An verschiedenen Fällen wurden Fragen aufgeworfen wie: Können die Motive der Inquisiteure in Hexenprozessen nach dem Modell der Psychoanalyse verstanden werden oder darf man die peinlichen Verhöre der Inquisition nur nach quellenkritisch überlieferten Begriffen der Inquisiteure selbst rekonstruieren? Kann Rabelais als »Atheist« beschrieben werden, auch wenn es Atheismus als Denkhorizont nicht gab? Kann man kluge Frauen in Salons der Romantik als »Intellektuelle« bezeichnen, obwohl der Begriff mitsamt seinen Konnotationen noch unbekannt war? (vgl. Arni 2007, 60; Wendler 2014, 42)
Lucien Febvre hielt den Import aktueller Denkmodelle in die Vergangenheit bekanntlich für eine »Todsünde« der Geschichtswissenschaft und forderte, bei der Rekonstruktion von Ereignissen im geschlossenen Denkhorizont der Vergangenheit zu bleiben. Dem hielt Jacques Rancière entgegen, Febvre gehe von einem Zeitkonzept aus, in dem es eine »reine Zeit« gebe, die von anderen Zeiten gereinigt sei. Darum könne er die »fließende Zeit« nicht wahrnehmen. Statt vom Anachronismus als Methodenfehler auszugehen, schlug Rancière vor, sich auf die Achronien zu konzentrieren, um im historischen Vorfall ein »gegenzeitiges Ereignis« zu erkennen, das erlaube, die Zeit gegen den Strich zu bürsten.
Nicole Loraux votierte dann – im Geist der Versöhnung der streitenden Parteien – für einen »kontrollierten Anachronismus«, dem sich Caroline Arni aus Basel anschloss: Aus der Aktualität können »Fragen gewonnen werden, die ein Wechselspiel eröffnen, auf dessen Feld die Vergangenheit und die Gegenwart auseinander erschlossen und verstanden werden« (Arni 2007, 60). So sind Vergangenheit und Gegenwart ineinander »verflochten«, beide Seiten befinden sich in einem Spiel der Transformation. In diesem Wechselspiel können Ereignisse, die als tote Archivalien vergessen wurden, aus ihrer »Müllphase« wieder hochsteigen (Thompson 1979). Das schließt nicht aus, dass sie aus dieser Höhe wieder ins Depot, das den Abfall speichert, abstürzen können.
Im Spiel der Transformationen bildet der Wunsch nach Authentizität, d.h. nach dem Schein nicht künstlich vermittelter Berührung eines Ereignisses, Anreiz und Motor im Hin und Her von Geschichte und Gegenwart. Das Einschießen der Jetztzeit in die Rekonstruktion der Geschichte ist ein Vorgang, der von Historiker*innen immer schon reflektiert wurde. Zu einem Skandal des Anachronismus wird er nur, wenn die Aktualisierung von Expert*innen als völlig unangemessen empfunden wird. Das ist vielleicht ein Fehler, aber oft Ursache der Empfindung des großen Publikums, Tuchfühlung mit dem vergangenen Ereignis aufgenommen zu haben. Das Veto der Quellen ist dabei kaum hörbar, solange es keine Autorität gibt, die ihnen das Recht aufs Veto einräumt. Auch die Quelle ist vom Konsens der Zunft abhängig, soll sie als wissenschaftliche Tatsache akzeptiert werden.
Nach sechs Minuten schwenkt der Brasse-Film in die Welt der politischen Kartierung Europas Ende des 16. Jahrhunderts. Die politische Zersplitterung der christlichen Mächte wird mit der Größe, Kampf- und Wirtschaftskraft des Osmanischen Reichs verglichen, die Schwierigkeiten eines Militärbündnisses gekennzeichnet, die Rolle des Papstes, der auf eine Entscheidungsschlacht drängt, charakterisiert. Man merkt: Hier ist eine Schwachstelle des Films; denn welcher Autorität unter den auftretenden Historikern soll man Glauben schenken. Dem Mann aus Istanbul oder Venedig? Ist es ein Glücksfall, dass sie sich nicht widersprechen?
Felix Hartlaub, dessen Schilderung der Schlacht wir bald kennenlernen werden, verfügte über kaum eine osmanische Quelle. Und zu meinem Erstaunen spielt Don Juan, sein Held, bei den befragten Experten eine untergeordnete Rolle.
Der Film von Marc Brasse verfolgt bekannte Authentifizierungs-Strategien. Er ruft verschiedene Autoritäten auf den Plan; nach Miguel de Cervantes treten die italienischen Professoren Marco Marin und Paolo Semi auf, unterstützt vom türkischen Experten İdris Bostan aus Istanbul; auf dem Gipfel der Stufenleiter der Autoritäten findet sich ein Admiral a. D. der italienischen Flotte, Tiberio Moro, ein. Diese Männer sind hier die Herrscher über gigantische Aktenbestände der Staatsarchive in Venedig und Istanbul, in denen stumm und nur teilweise entziffert das Gedächtnis der Seeschlacht gespeichert ist. Autoritäten stehen im Zentrum der »Rituale von Echtheitszuschreibungen«, das ist guter Brauch (siehe Sabrow/Saupe 2016; vgl. Lethen 2006; Jäger u.a. 2016). In noch tieferen Grund der Vergangenheit, suggerieren Marc Brasses Bilder, tauchen aber die Unterwasser-Archäolog*innen auf ihrer Suche nach Überresten der Seeschlacht. Erschöpfender kann nicht rekonstruiert werden, und die Tonspur fährt unter die Haut.
Die erste Sequenz des Films konzentriert sich auf ein Medium, in dem besondere »mnemotechnische Energien« (Korff 2002 [1992]) gespeichert zu sein scheinen und zugleich das Fließen der Zeit vergegenwärtigt wird: das Wasser des Mittelmeers. Dieses scheinbar bedeutungslose Medium des Mittelmeerwassers wird von der medialen Jetztzeit der »Migrantenströme« und dem Tod der Flüchtenden im Mittelmeer eingefärbt.
Eine Seeschlacht als Heldenepos
2017 wird eine 1940 veröffentlichte Dissertation mit dem Titel »Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto« wieder herausgegeben (Hartlaub 2017 [1940], vgl. Lethen 2019). Sie stammt von dem als Schriftsteller bekannten und als Militärhistoriker unbekannten Felix Hartlaub. Der Mitherausgeber Wolfgang Schwiedrzik gibt für den Neudruck vier Motive an:
Hartlaubs Dissertation sei erstens zwar in Fernand Braudels großem Opus »Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.« (1949) gerühmt, in der Werkausgabe des Schriftstellers aber nicht berücksichtigt worden. Offenbar habe man verschweigen wollen, dass der als Pazifist gerühmte Schriftsteller als Militärhistoriker ins Dritte Reich verstrickt gewesen sei. Das Nachwort des Historikers und Mitherausgebers Wolfram Pyta bekräftigt Hartlaubs Leistung, dessen lebendige Vergegenwärtigung der Seeschlacht einen »Kontrapunkt gegen eine in Aktenphilologie erstarrte Faktenaufzählung« bilde: Dies sei Hartlaub möglich gewesen, weil Historiker aus dem Kreis um Stefan George sein Vorbild gewesen seien, sein Doktorvater Walter Elze habe dazugezählt (Pyta 2017, 261).
Zweitens will der Herausgeber die Legende zerstören, Felix Hartlaub hätte in Kontakt zur kommunistischen Widerstandsorganisation »Rote Kapelle« gestanden, die er mit geheimem Material aus dem Oberkommando der Wehrmacht versorgt habe. Die Arbeit am Kriegstagebuch sei nur der Legende nach die »Tarnkappe« (Schwiedrzik 2017, 12) eines Widerständlers gewesen, wie der Dichter Durs Grünbein behauptet und die ganze Hartlaub-Forschung unterschrieben habe. Dagegen führt der Herausgeber an, dass es außer den Aussagen von Klaus Gysi keine belastbaren Belege für den Kontakt zur »Roten Kapelle« gebe (ebd., 18ff.). Die Widerstandslegende unterschlage, dass der Apparat der Befehlszentrale der »Wolfsschanze« den jungen Militärhistoriker durchaus fasziniert habe (ebd., 23). Mit den von ihm verantworteten Teilen des Kriegstagebuchs habe er außerdem solide militärhistorische Arbeit abgeliefert.
Drittens macht der Herausgeber darauf aufmerksam, dass Hartlaub seine Dissertation im Verlag Junker und Dünnhaupt veröffentlichte, in dem vor 1933 z.B. Ernst Jüngers »Krieg und Krieger« und Helmuth Plessners »Macht und menschliche Natur« erschien, nach 1933 Alfred Baeumler erfolgreich war und in dessen Schriftenreihe der »Deutschen Hochschule für Politik« dann u.a. auch Carl Schmitt zu Worte kam.
Im Zentrum steht für Wolfgang Schwiedrzik jedoch viertens ein politisches Motiv. Er liest Hartlaubs »Seeschlacht bei Lepanto« als alarmierendes Geschichtszeichen, in dem Gefahren und Zukunft der Gegenwart wahrgenommen werden können. Schon in Hartlaubs Arbeit habe man lesen können, dass die Schlacht zu jenen Ereignissen zähle, in denen ein »uralter Gegensatz« feierlich ausgetragen worden sei (Hartlaub 2017 [1940], 182). Es gehe um die Entscheidungsschlacht von Christentum und Islam. Mit Papst Pius V., sei es auch für Hartlaub bei dieser Schlacht um einen »erhabenen Zweikampf zwischen Mohammed und Christus« gegangen (ebd., 80).
Die beiden ersten Punkte, die Zerstörung der Legende des Widerstandskämpfers und die Bedeutung der Dissertation für die Geschichtsschreibung des Mittelmeerraums, scheinen mir gut begründet. Im Zusammenhang mit dem Problem des Anachronismus scheinen mir zwei Ausgangspunkte der Herausgeber interessant: erstens, dass Hartlaubs Geschichtserzählung seine Unmittelbarkeit und militärhistorische Objektivität Historikern aus dem Kreis um Stefan George verdanke; zweitens, dass sich seine Arbeit als Heldenepos des »jugendlichen Generalissimus der Ligaflotte« (ebd., 44) dazu eigne, Lepanto als Geschichtszeichen zu aktualisieren.
Im Vorwort weist der Herausgeber auf den »bedrohlichen, militanten Vorstoß des (politischen) Islam nach Europa, in Form von gezieltem Terror« und in »Form von massenhaften Flüchtlingsströmen aus muslimischen Ländern« hin (Schwiedrzik 2017, 33). Mit Hartlaub könne man sich sogar die Schwierigkeiten vor Augen führen, eine militärisch schlagkräftige Koalition zur Abwehr des Islam zu schmieden. Lepanto wird als Wendepunkt der Geschichte betrachtet. »Man kann sich«, hatte Hartlaub geschrieben, die »Bedrohung der christlichen Mittelmeerwelt nicht unheimlich und unmittelbar genug vorstellen.« (ebd., 57)
Die Darstellung der Schlacht bei Lepanto war für Hartlaub vor allem Anlass, den Oberbefehlshaber der vereinigten spanisch-päpstlich-venezianischen Flotte, Don Juan d’Austria, mit einem Heiligenschein zu versehen. Die von ihm geschmiedete Koalition hatte am 7. Oktober 1571 im Ionischen Meer die Flotte des Osmanischen Reichs besiegt. Trotz spärlicher Quellenüberlieferung gelingt es Hartlaub, seinen Helden Don Juan die Unmittelbarkeit einer lebendigen Gestalt – von der Größe Achills oder Alexanders – gewinnen zu lassen (Pyta 2017, 266). Hartlaubs Heldenlied lässt uns seine Empathie mit der verkörperten Geschichte eines Siegers spüren. Das ist selten, denn Sieger-Pathos ist fast ausgestorben, scheint ein Laster, dem man sich kaum hingeben darf. Und wenn Heroismus zum Gegenstand eines Sonderforschungsbereichs wird (siehe die Website des SFB »Helden – Heroisierungen – Heroismen«),[3] darf man davon ausgehen, dass er in der Regel als Negativfolie untersucht, als Tugend einer untergegangenen Epoche oder als Merkmal einer fremden Kultur behandelt wird.
Man kann das überprüfen. Im Gegensatz zur akademischen Kritik erfreut sich das Helden-Genre gegenwärtig in Filmen und Videospielen großer Attraktivität. Vielleicht, weil es sich aus einem Opferdiskurs löst, der zutiefst mit Authentizitätsbehauptungen verwoben ist (vgl. Sabrow 2008). Das ist plausibel, denn nichts scheint authentischer als der Schmerz des Opfers (siehe auch Lethen 1996, 221). Täter*innen dagegen genießen selten den Status, authentisch zu sein, und Sieger*innen noch seltener. Sind sie schmerz-immun? Don Juan ist ein Sieger, und Hartlaub verleiht ihm im Genre des Heldenlieds die Qualität des Unmittelbaren. Im Medium des Heldenlieds wird der Weg frei, auf Tuchfühlung mit dem Geschichtszeichen »Lepanto« zu gehen.
Als Beispiel für die Darstellungsform des Heldenepos sei hier Hartlaubs Beschreibung des Vorabends der Schlacht zitiert:
»Nach Rückkehr Don Juans wurde am Heck der ›Real‹ das von Pius V. gestiftete Banner der heiligen Liga entfaltet und von Manrique gesegnet. Der Inquisitor der Armada verlas die päpstliche Bulle, die allen Teilnehmern an dieser Schlacht völligen Ablaß gewährte. Dann erteilte er, mit der einen Hand ein Crucifix erhebend, mit der anderen Weihwasser umhersprengend allen Mannschaften die Absolution. Dasselbe taten die auf den Galeeren verteilten Ordensgeistlichen. Dann knieten Soldaten, Matrosen und christliche Rudersklaven zum Gebet nieder, Don Juan verrichtete das seine in voller Rüstung und weithin sichtbar auf dem Vorkastell seines Schiffes. Das Banner wurde beim Klange von Trompeten und Kesselpauken und unter den Viktoriarufen der Soldaten geheißt und eine Gewehrsalve abgegeben. Auf jedem Schiff herrschte ›unglaubliche Freudigkeit‹.« Es sei schwer, schreibt Hartlaub, »sich ein großartigeres Bild der ›ecclesia militans‹« vorzustellen (Hartlaub 2017 [1940], 196).
Die Darstellung einer Schlacht im 16. Jahrhundert in der Art eines antiken Heldenlieds wirft die Frage auf, ob Anachronismen nicht nur durch den Import von moderneren Denkmodellen, sondern auch im Rückgriff auf Erzählmuster, die viele Jahrhunderte vor dieser Schlacht entstanden waren, zu erkennen sind. Es muss »rückwärtsgewandte« und »vorgreifende« Anachronismen geben. Insofern sind in der Darstellung eines Ereignisses immer viele Zeitebenen gebündelt (vgl. ebd., 166).
Hartlaubs Heldenepos und die Wirklichkeit der »Wolfsschanze«
Hartlaubs Doktorarbeit erschien 1940 in einem Verlag, der 1930 Ernst Jüngers »Krieg und Krieger« herausgebracht hatte. Das schärft die Aufmerksamkeit für Hartlaubs stilistische Techniken bei der Darstellung der Schlacht. Karl Heinz Bohrer hatte in seiner »Ästhetik des Schreckens« (1978) aufgrund der Kriegsliteratur von Ernst Jünger die These aufgestellt, dass die Schärfe der Beobachtung erst durch Abwehr des Eindringens moralischer Kategorien in die Wahrnehmung möglich sei (Bohrer 1978). Moralferne gehört zum Pathos der Militärgeschichtsschreibung – das ist nicht neu. Moralische Urteile werden auf Eis gelegt, um die reine Physik der militärischen Bewegung unbeschwert herauszustellen. Das ist notwendig, um Kriege in Bewegungsdiagrammen zu erfassen. Und Don Juan verkörpert für Hartlaub »das Bewegungsprinzip der Unternehmung« (ebd., 44), Hartlaub bezieht sich einmal explizit auf Clausewitz (Hartlaub 2017 [1940], 219). Im Ästhetischen Fundamentalismus des George-Kreises spielte Moral ohnehin keine Rolle (Breuer, 1995).
Da sich der moralferne Zug der Schlachtbeschreibung von der »Ilias« bis zu den »Stahlgewittern« durchzieht, kann in Hartlaubs Kälte der Schlachtbeschreibungen keine Besonderheit ausgemacht werden. In Darstellungen von Schlachten waren schon immer viele temporäre Linien gebündelt. Triebgründe der Aggression und Grausamkeit sind offenbar an keine Zeit gebunden. Darum verwundert es nicht, dass Hartlaubs Schilderungen der Unerbittlichkeit des Kampfs, in dem die Galeeren »wie Geschwader von Panzerreitern aufeinanderprallten« (Hartlaub 2017 [1940], 235), immer noch faszinieren können. Die Galeerensklaven, oft als Gefangene früherer Kämpfe an ihre Bänke angekettet, werden in der Verkeilung zweier Galeeren hilflos den Angreifern ausgeliefert und mit dem sinkenden Schiff hinuntergerissen. Manchmal werden die Rudersklaven der christlichen Ligaflotte losgekettet und bewaffnet (ebd., 208). »Bis in die Nacht wetteiferten sie mit den Soldaten beim Morden und Plündern, viele von ihnen mussten von den Aufsehern mit Gewalt an ihre Ruderbänke zurückgebracht werden« – wo sie wieder angekettet wurden. Sind christliche Rudersklaven an die Bänke osmanischer Schiffe gekettet, werden sie bei Entern des Schiffes von ihren Ketten gelöst, damit sie den türkischen Kriegern in den Rücken fallen können.
Nach der Rekonstruktion der Schlacht bei Lepanto, in der Hartlaub den Heroismus des spanischen Thronfolgers zum Klingen gebracht hatte, muss ihm die Arbeit am Kriegstagebuch für das Oberkommando der Wehrmacht große Enttäuschung bereitet haben. Ab März 1943 war der Göttinger Geschichtsprofessor Percy Ernst Schramm Leiter der kriegsgeschichtlichen Abteilung, der den Wehrmachtsführungsstab als »eine von einem höchst nüchternen, illusionsfreien Geist beherrschte Institution« (Schramm 1962, zit. n. Marose 2005, 162) begriff. Sein Assistent, der Obergefreite Felix Hartlaub, dem er lange die ganze Arbeit überließ, wusste, dass man als Kriegstagebuchschreiber »nur noch Schreibfinger, Leseauge, Sehkanal« war. »Drumherum lähmendes Kopfweh« (Hartlaub 2002 [1939-1945], 187). Wenn man sich aber einmal auf den Militärjargon und die Regeln des Genres eingelassen habe, so Hartlaub, war die Arbeit leicht zu bewältigen. Es war ein Vorgang wie »Photographieren mit beschlagener Mattscheibe« oder »Rasieren mit blindem Spiegel« (ebd., 198).
Hielt man es für eine »Ehrenpflicht des deutschen Historikers« (ebd., 201), Mordpraktiken der Wehrmacht, der SS oder von Polizeieinheiten, die in der Lagebesprechung beiläufig erwähnt worden waren, nicht ins Kriegstagebuch zu übertragen, konnte einem die Arbeit sogar leicht von der Hand gehen. Ereignisse, wie etwa das Blutbad, das eine Polizeieinheit in Thessalien angerichtet hatte, waren selbstverständlich auszublenden (ebd.). Im Kriegstagebuch kam es auf »Schwerpunktbildung« an. »Ein wuchtiger Kernsatz und ein überlegen aufsummierender Nachsatz«, das genügte. Schatten und Härten waren »herauszuretouchieren« (ebd., 167). Auf Einzelheiten sollte man sich erst gar nicht einlassen, »die sind ja für die oberste Führung völlig belanglos« (ebd., 197). Also schreibt Hartlaub ins Kriegstagebuch: »Der Hauptherd der roten Bandenbewegung blieb weiterhin das serbisch-montenegrische Grenzgebiet.«
Als sich die Niederlage an der Ostfront abzeichnet, interessiert das Kriegstagebuch den Führer ohnehin nicht mehr (vgl. Marose 2005, 134). Überhaupt scheint der Sinn dieser Arbeit strittig – »das hat ja alles Zeit bis hinterher« (Hartlaub 2002 [1939-1945], 167) –, wird von höherer Stelle angedeutet. So werden Historiker auf ihren Platz verwiesen.
Für untergeordnete Mitarbeiter im Sperrkreis II der »Wolfsschanze« zerfallen die Führerbefehle in unzählige Aktenvorgänge. Der Historiker Hartlaub gewöhnt sich daran, dass die zugehörige Wirklichkeit auf einem anderen Planeten stattfindet. Fern bleibt im Sperrkreis II auch die Stimme des Führers, sie ist in der Druckerschwärze der Akten – womöglich auf »Führerpapier« – abgesoffen oder, aus Hartlaubs Sicht, versunken in den Köpfen lethargischer Gestalten, der Hörigen, die den Sperrkreis bevölkern. Im Kreis der Offiziere werden nach dem Attentat zur Beruhigung Reden geschwungen; schon um abzulenken und »eine beruhigende dunkelwarme Schallkulisse zu schaffen«, wie Felix Hartlaub konstatiert. Der General, den Hartlaub ins Visier nimmt, drückt sich nach dem 20. Juli 1944 »ethisch« aus, und in seiner Stimme »strömt es wie in einer angedrehten Warmwasserheizung«, wenn er bekennt, dass er das Scheitern von Stauffenbergs Attentat als ein »Gottesurteil« empfindet. Er möchte sagen: »ein steter Born des Glückgefühls« (ebd., 217).
Die Arbeit im Sperrkreis II, der den Kriegstagebuchschreiberinnen und ihren männlichen Kollegen zugewiesen ist, entspricht nicht den Erwartungen, die man mit einem »Nervenzentrum« des Kriegs wie der »Wolfsschanze« verknüpft. Hartlaub sieht dort »keine wilden besessenen Arbeitsnaturen, meinetwegen ungeschliffen, ungerecht, rücksichtslose Menschenverächter«, die er noch in der Schlacht bei Lepanto hat schildern dürfen, sondern, wenn es hochkommt »halbblinde Arbeitselephanten« (ebd., 183).
Hartlaubs Enttäuschung über die Niederungen der Militärgeschichtsschreibung und das Personal des Oberkommandos muss beträchtlich gewesen sein. Ihn faszinierte zwar der »Apparat« des Befehlszentrums – und Verlustrechnungen und Tötungspraktiken notierte er mit der berufsmäßigen Kälte der Beobachtung. Eine Szene wie die folgende wäre im Kriegstagebuch des OKW jedoch nicht denkbar gewesen:
»Don Juan [der Oberbefehlshaber; HL] wusste lange Zeit nichts über den Stand der Dinge, bei den anderen Geschwadern. Jeder Offizier war auf seinem Schiff allein wie ein im dichten Wald verirrter Jäger [...]. Alle Erzähler sprechen vom entsetzlichen Getöse: mit dem Krachen der Salven vereinte sich das Splittern des Holzes, die Rufe der Verwundeten und Ertrinkenden, das gräßliche Feldgeschrei der Türken. Da von beiden Seiten Brandgeschosse, Pechkränze und dergl. geschleudert wurden [...] brachen auf vielen Schiffen Brände aus, von denen die Funken weithin flogen. Wolken von Pfeilen gingen über die Christen nieder, von denen bald die Verdecke, Schanzkleider und Masten wie Igel starrten. Sereno erzählt, daß sich ihm, als er sich viele Jahre später, in der Stille des Klosters Monte Cassino beim Schreiben seines Geschichtswerks an die Einzelheiten dieser Seeschlacht erinnerte, die Haare sträubten, ›die Hand, die die Feder hält, zittert mir, Furcht überkommt mich, die ich damals, als ich den großen Tage miterlebte, nicht kannte‹.« (Hartlaub 2017 [1940], 200)
Solche Sentimentalität darf dem jungen Militärhistoriker im OKW nicht unterlaufen. Das waren noch Zeiten fern von der »Wolfsschanze«, in denen sich ein oberster Feldherr mit dem Schwert ins Getümmel stürzte (ebd., 202) und die Chronisten noch nachträglich vom Schrecken übermannt wurden.
Gegen Ende konzentriert sich der Lepanto-Film auf das Aufeinanderprallen der feindlichen Galeerenflotten, er zeigt das Chaos der Schlacht. Schnelle Schnitte und wahllose Überblendungen und Montagen sollen die Dramatik der Situation vergegenwärtigen. Da diese Bilder das Ereignis eher in seine historische Ferne rücken als die Situation spürbar zu machen, schaltet sich als Erzählerstimme ein italienischer Historiker ein, der aus dem Wissen der Archive die O-Töne des Kampfes imaginieren lässt. Triumph des Schriftmediums der Geschichte: Die Erzählung ist besser als die Bildmontagen imstande, die Macht des Zufalls, das Leid, den Zorn und die Verzweiflung zu erfassen.
Situationen verwirrter Strategen, umherirrender Offiziere und dem puren Zufall geschuldete Wendungen der Schlacht konnte Hartlaub den »Kriegstagebüchern« Ernst Jüngers und vielleicht sogar den mündlichen Frontberichten bei der Besprechung der Lage entnehmen. Allerdings gehörten Kontingenzen dieser Art 1943/44 nicht zur vorgeschriebenen Textsorte des Kriegstagebuchs. Dort waren sie nicht erwünscht und mussten entsorgt werden. Daher beschreibt Hartlaub seine Tätigkeit als »Rasieren mit blindem Spiegel« (Hartlaub 2002 [1939-1945], 198). Weder die Verdunkelungen der Realität in der abstrakten Beschreibung von Kriegshandlungen noch das Personal des Befehlszentrums in der »Wolfsschanze«, entsprachen der Vorstellung eines in der Ästhetik des erhabenen Schreckens geübten Beobachters, die sein Doktorvater aus der George-Schule an ihm offenbar geschätzt haben muss.
Das Heldenlied des Don Juan war noch als »imperative Kunst« in Georges Sinn konstruiert. Kunst, »die Raum setzt, Grenzen setzt, anordnet, das Maßlose gliedert, in der der Staat und der Genius sich erkennt« (Benn 1989 [1934], 112). Die »unerbittliche Härte des Formalen«, die Gottfried Benn 1934 am Werk Georges schätzte (ebd., 109), führt im Genre des Kriegstagebuchs der »Wolfsschanze« zur Entsorgung der Wirklichkeit. Es diente tatsächlich nicht mehr der Wirklichkeit, sondern war eine »metaphorische Überspannung des Seins« (ebd., 102), und damit eine Perversion, von der Stefan George nicht geträumt haben dürfte.
Seine Enttäuschung verkraftete Hartlaub in Form heimlicher Skizzen, in ätzenden Miniaturen der biederen NS-Geselligkeit. Nur die SS-Männer verkörpern am Rande die Idealfigur athletischer Nazis: kupferfarbige Gestalten mit Sonnenbrille und »cremeglänzenden Gliedern« (Hartlaub 2002 [1939-1945], 162).
Nachleben von Lepanto
Da Hartlaub als Schriftsteller nur aufgrund seiner kritischen Beschreibungen des Sperrkreises II bekannt wurde, blieb sein militärhistorisches Werk unbeachtet. Gerade seine Darstellung der Schlacht bei Lepanto ermöglicht es uns, das Scheitern des Heldenlieds an der feldgrauen Wirklichkeit der »Wolfsschanze« zu studieren. Die Wiederentdeckung seiner Darstellung der Seeschlacht bei Lepanto als Heldenlied und Geschichtszeichen für die Gegenwart unterschlägt die Erfahrung, die der Autor in der Verschrottung des Heldenlieds in der »Wolfsschanze« machte. Und sie unterschlägt Aspekte, die der junge Historiker mit Nachdruck hervorhebt: die totale »Folgenlosigkeit« des Siegs bei Lepanto.
Die Niederlage schwächte das Osmanische Reich nur kurz, seine Flotte war im Nu wiederaufgebaut (vgl. Landwehr 2015). Dagegen brach die Flotte der Heiligen Liga auseinander, die »atlantischen Seemächte, Rivalen Spaniens, waren Nutznießer des Siegs von Lepanto, und Venedig wandte sich schnell wieder dem Levantehandel zu, von dem seine wirtschaftliche Existenz abhing (Hartlaub 2017 [1940], 55). Allerdings weist selbst Hartlaub auf die »Folgenlosigkeit« der Heldentat hin, um Don Juan wie eine Shakespeare-Gestalt mit Tragischem zu umhüllen.
Hartlaubs Lepanto-Buch wird in einer Rezension der neurechten Zeitschrift »Sezession« gefeiert. Sie trägt die Überschrift: »Ecclesia militans« (Sommerfeld 2017). Dabei übernimmt die Autorin eine Begriffsverschiebung von ecclesia militans, die schon Hartlaub unterlaufen war. Ursprünglich meinte der Begriff nur den noch im irdischen Leben gefangenen und deswegen mit der eigenen Sündhaftigkeit streitenden Teil der Christenheit im Gegensatz zur ecclesia patiens bzw. poenitens (Fegefeuer) und ecclesia triumphans (Paradies). Er meinte also nicht den Kampf gegen Fremde und Heiden. Wenn aber Geschichtsschreibung im Sinne der erhabenen Historiker aus dem George-Kreis als »verdichtete und ergreifende Selbstversicherung des Eigenen« begriffen wird (Sommerfeld 2017, 62), kann die vom spanischen Thronfolger Don Juan geschmiedete europäische Koalition und die unter seinem Oberbefehl vereinigte Flotte der »Katholischen Liga« als Musterbeispiel einer gelungenen Abwehr des Islam durch die »ecclesia militans« beschrieben werden. Im Zuge einer solchen Sicht ist es nicht verwunderlich, dass die Rezensentin in der fehlenden Unterstützung des »protestantischen Nordens« gegenüber den »katholischen Glaubensbrüdern« (ebd.) den Unterschied zwischen der protestantischen Angela Merkel und dem österreichischen Außenminister Sebastian Kurz, der die Grenzen schloss, wiedererkennen zu meint.
Immanuel Kant hatte mit dem Begriff des »Geschichtszeichens« von Königsberg aus die ferne Französische Revolution als erhabenes Ereignis bezeichnet. In Geschichtszeichen traten Kant zufolge in Ereignissen eines Wendepunkts Elemente möglicher Zukunftsbewältigung zu Tage. In ihnen waren Schrecken und Hoffnung gebündelt. In diesem Sinne habe ich etwa die Darstellung von »Stalingrad« in Walter Kempowskis »Echolot« untersucht (Lethen 1999, 153) oder die Zerstörung des World Trade Center als Geschichtszeichen begriffen (Lethen 2009). Im Vergleich mit diesen Ereignissen erscheint der Versuch, die Seeschlacht von Lepanto als Geschichtszeichen wiederzubeleben eher als gespenstisch. Ich kann in diesem Ereignis kein Element einer möglichen Zukunftsbewältigung entdecken – oder doch nur das des Schreckens.
Vom Schlachtenlärm und der Totenstille nach der Seeschlacht bei Lepanto trennen uns über 400 Jahre – näher als durch ihre Repräsentationen kommen wir nicht an sie heran. Nur das Wasser des Mittelmeers bleibt ein mehrfach umgeschichteter Zeuge. So könnte man sich – eingedenk der Mahnung von Jacob Burckhardt, die Geschichte sei »nicht unsertwegen da« (Kittsteiner 2004, 88) – gelassen zurücklehnen und das Spiel der Transformationen, des Auf- und Abbaus von Geschichtszeichen und der Sehnsucht nach Präsenz mit ästhetischem Behagen betrachten und selbst groben Anachronismen Reize abgewinnen.
Die Vergangenheit ist kein abgetrenntes Gegenüber von der Gegenwart. Eintauchend in die Vergangenheit können »wir uns und all die Toten früherer Zeiten (die wir bald selbst sein werden) aber als Wesen entdecken, die in selbst gemachte temporale Gespinste eingebunden sind« (Landwehr 2015, Kommentare), Und je mehr diese temporalen Gebilde in ihrer Komplexität erfahren werden, desto intensiver werden wir uns die Nähe ihrer Ferne zu eigen gemacht haben. Futur II ist immer dunkel.
Die ganze Problematik stellt sich vermutlich sofort anders dar, wenn man der Praxis historischen Forschens eine politische Bedeutung beimisst, die einen aktiven Eingriff in den Gang der Dinge ermöglichen soll. Weiß der Teufel – wie? Denn aktiver Eingriff heißt immer, Dinge zu entkomplizieren. Das müsste auch ohne Geschichtszeichen gehen.
Anmerkungen
[1] Siehe zur Rezeptionsgeschichte Rudolph 2012, insb. S. 101f.: »Die Seeschlacht von Lepanto, in der die Heilige Liga am 7. Oktober 1571 einen Sieg über das Osmanische Reich erringen konnte, wird heutzutage oftmals als Wendepunkt im Hinblick auf die osmanische Seeherrschaft im östlichen Mittelmeerraum betrachtet. Während die Bedeutung dieser Niederlage für den Niedergang des Osmanischen Reiches in der historischen Forschung schon in den 1970er Jahren relativiert wurde, halten sich außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses triumphale Interpretationsmuster.«
[2] Die Seeschlacht von Lepanto wurde vom ZDF produziert und in verschiedenen Fassungen gezeigt. Im ZDF erfolgte seine Erstausstrahlung am 30.06.2002 als achte Folge der Reihe »Tauchfahrt in die Vergangenheit« des ZDF-History Programms. Auf ARTE wurde er am 23.05.2004 gezeigt.
[3] Siehe die Website des SFB: https://www.sfb948.uni-freiburg.de/de [10.08.2021]
Literatur
Arni, Caroline: Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien: Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektiv in: L’homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 18/2 (2007), 53-76, online unter https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/990/lhomme.2007.18.2.53%20Arni.%20Caroline.pdf?sequence=1&isAllowed=y [10.08.2021].
Benn, Gottfried: Rede auf Stefan George [1934], in: G.B., Sämtliche Werke, Bd. IV, Stuttgart 1989.
Bohrer, Karl Heinz: Die Ästhetik des Schreckens, München 1978.
Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995.
Feuersenger, Marianne: Im Vorzimmer der Macht, München 1999.
Hartlaub, Felix: Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier [1939-1945], in: ders.: »In den eigenen Umriss gebannt.« Kriegsaufzeichnungen, literarische Fragmente und Briefe aus den Jahren 1939 bis 1945. Hg. von Gabriele Lieselotte Ewenz, Frankfurt a.M. 2002.
Hartlaub, Felix: Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto [1940]. Hg. von Wolfram Pyta und Wolfgang M. Schwiedrzik, Neckargemünd/Wien 2017.
Jäger, Ludwig/Koschorke, Albrecht/Lethen, Helmut (Hg.): Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2016.
Kittsteiner, Heinz Dieter: Jacob Burckhard als Leser Hegels, in: ders. (Hg.): Out of Control. Über die Unverfügbarkeit des historischen Prozesses, Berlin/Wien 2004, 75-104.
Korff, Gottfried: Zur Eigenart der Museumsdinge [1992], in: ders.: Museumsdinge. Deponieren – Exponieren, Köln 2002, 140-145.
Landwehr, Achim: Lepanto oder Der fortgesetzte Missbrauch der Vergangenheit, in: Blog: Geschichte wird gemacht. Über die Alltäglichkeit des Historischen (04.01.2015), https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/01/04/33-lepanto-oder-der-fortgesetzte-missbrauch-der-vergangenheit/ [10.08.2021].
Lethen, Helmut: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften – Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996, 205-231.
Lethen, Helmut: Stalingrad als Geschichtszeichen, in: Heinz Dieter Kittsteiner (Hg.): Geschichtszeichen, Köln/Weimar/Berlin 1999, 153-180.
Lethen, Helmut: Der Stoff der Evidenz, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabell Otto/Marc Spaniol (Hg.): Listen der Evidenz, Köln 2006, 65-85.
Lethen, Helmut: Bildarchiv und Traumaphilie, in: ders. (Hg.): Unheimliche Nachbarschaften, Freiburg 2009, 171-186.
Lethen, Helmut: Felix Hartlaub zwischen der Seeschlacht bei Lepanto und dem Führerhauptquartier, in: Nikola Herweg/Harald Tausch (Hg.): Das Werk von Felix Hartlaub, Göttingen 2019, 112-126.
Marose, Monika: Unter der Tarnkappe. Felix Hartlaub. Eine Biographie, Berlin 2005.
Pyta, Wolfram: Nachwort, in: Felix Hartlaub: Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto [1940]. Hg. von Wolfram Pyta und Wolfgang Schwiedrzik, Neckargemünd/Wien 2017, 251-290.
Rudolph, Harriet: Lepanto – Die Ordnung der Schlacht und die Ordnung der Erinnerung, in: Horst Carl/Ute Planert (Hg.): Militärische Erinnerungskulturen vom 14. bis zum 19. Jahrhundert. Göttingen 2012, 101-128.
Sabrow, Martin: Heroismus und Viktimismus. Überlegungen zum deutschen Opferdiskurs in historischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien 43/44 (2008), 7-20.
Sabrow, Martin/Saupe, Achim: Historische Authentizität. Zur Kartierung eines Forschungsfeldes, in: dies. (Hg.): Historische Authentizität. Göttingen 2016, 7-18.
Schramm, Percy Ernst: Hitler als militärischer Führer. Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht, Frankfurt a.M. 1962.
Schwiedrzik, Wolfgang: Vorwort, in: Felix Hartlaub: Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto [1940]. Hg. von Wolfram Pyta und Wolfgang Schwiedrzik. Neckargemünd/Wien 2017, 9-42.
Sommerfeld, Caroline: Felix Hartlaub: Don Juan D’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Rezension, in: Sezession 79, 01.08.2017, S. 68, https://sezession.de/58300/ecclesia-militans [10.08.2021].
Sonderforschungsbereich 948 der Universität Freiburg: Helden – Heroisierungen – Heroismen, https://www.sfb948.uni-freiburg.de/de [10.08.2021].
Thompson, Michael: Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value, Oxford 1979.
Wendler, André: Anachronismen: Historiografie und Kino, Paderborn 2014.