Abstract
Der Beitrag beschäftigt sich mit Diskursen, Konzepten und Konventionen von »historischer Authentizität« in populären fiktionalen Spielfilmen, insbesondere, aber nicht ausschließlich im deutschsprachigen Kontext. Der erste Teil widmet sich einer typisch deutschen Tradition der Verknüpfung von filmischer Geschichtsdarstellung und Realismus, die als notwendige Grundlage für die Forderung nach Authentizität in fiktionalen Ausdrücken begründet wird. Der zweite Teil erläutert ein theoretisches Modell, das die Herstellung des Realismus-Eindrucks als Zusammenspiel von ästhetischer Ähnlichkeits- und Differenzerfahrung begreift. Wie sich dies für die Analyse von historisch situierten Spielfilmen anwenden lässt, erläutert der dritte Teil des Beitrags, der zugleich eine Systematisierung von ästhetischen Strategien der Authentifizierung vorschlägt. Zum Abschluss, im vierten Schritt, wird ein Ausblick auf mögliche Bezugspunkte für eine verstärkt kritische Auseinandersetzung mit dem Thema »historische Authentizität im Spielfilm« gegeben.
- Das ästhetische Paradigma des Realismus
- Authentizität und der Effekt des Realismus
- Ästhetische Strategien der Authentifizierung im historischen Spielfilm
- Zusammenfassung und Ausblick
- Filmografie
- Literatur
Die Rede von »Authentizität« ist im Kontext von Filmankündigungen und -kritiken heute so gebräuchlich, dass wir geneigt sind, dies für eine selbstverständliche Anforderung an historische Spielfilme zu halten. In journalistischen Diskursen über audiovisuelle Geschichtsdarstellung fungiert der Ausdruck Authentizität dabei als (kulturelle) Wertzuschreibung: Filme mit historischem Inhalt werden um ihrer Authentizität willen von der Kritik wertgeschätzt, und die Absprache von Authentizität geht zumeist mit der Abwertung eines Angebots einher. Was genau damit eigentlich gefordert ist, bleibt jedoch unklar. Wenn ein Film als »authentisch« bezeichnet wird, soll damit jedenfalls keine »Echtheit« im juristischen Sinne bescheinigt werden – es geht nicht um die Frage »Original oder Fälschung?«. Vielmehr ist es die Glaubhaftigkeit der Darstellung, die hier zur Disposition steht (vgl. Saupe 2012).
Im Spielfilm ist jedoch alles »gemacht«, und der pragmatische Status der Fiktion entbindet ihn auch von der Voraussetzung, sich direkt auf die außermediale Realität zu beziehen. Was steckt also dahinter? Warum spielt Authentizität für die populäre audiovisuelle Geschichtsdarstellung eigentlich eine so große Rolle?
Wenn Authentizität für Glaubhaftigkeit steht, ist die Forderung danach nur dann sinnvoll, wenn der Film auch mit dem Anspruch einer wirklichkeitsgetreuen Erzählung und Darstellung produziert wurde. Das gilt nicht für alle Filme, sondern nur für solche, die sich dem ästhetischen Paradigma des Realismus zuordnen lassen (vgl. Schumacher 2018). Hinter der Forderung nach historischer Authentizität im Spielfilm verbirgt sich also zunächst eine Forderung nach Realismus.
Die Verknüpfung von filmischer Geschichtsdarstellung und Realismus geht in der Bundesrepublik Deutschland auf eine gewachsene Tradition zurück, die im Kontext der sogenannten Vergangenheitsbewältigung und der Aufnahme des Films in das Ausdrucksensemble der kritischen Medienöffentlichkeit zu sehen ist (ebd.). Diesen Zusammenhang schlüsselt der vorliegende Beitrag im ersten Teil auf. Der zweite Teil erläutert ein theoretisches Modell dafür, wie der Eindruck von Realismus in der Rezeption durch ein Zusammenspiel der ästhetischen Erfahrung von Ähnlichkeit und Differenz generiert wird und welche Rolle Authentizität dabei einnimmt. Im dritten Teil folgt ein Vorschlag zur Systematisierung von ästhetischen Strategien der Authentifizierung im historischen Spielfilm. Der Abschluss bietet eine Zusammenfassung der Ergebnisse und eröffnet einen Ausblick auf weiterführende Fragen zum Thema historische Authentizität im Spielfilm.
Das ästhetische Paradigma des Realismus
Der ästhetische Realismus ist in seinen Ausdrucksformen und Traditionen sehr unterschiedlich (vgl. Marszalek 2010; Gaut 2010). Kendall Walton bezeichnet ihn deswegen auch als »monster with many heads desperately in need of disentangling« (Walton 1990, 326). »[S]trenggenommen«, stellte Martin Swales fest, sollten wir eigentlich lieber von »Realismen« sprechen (Swales 1997, 13). Als »ästhetische Konstante« realistischer Ausdrucksformen lässt sich jedoch ihr konzeptionell geteiltes »Streben nach Wirklichkeitsnähe« (ebd.) ausmachen. Letzteres wird in programmatischen Ansätzen des Realismus durch unterschiedliche Gestaltungsregeln interpretiert, die über ein weiteres, wirkungsästhetisches Ziel legitimiert sind. Während sich nach diesen Aspekten unterschiedliche Modelle von Realismus unterscheiden lassen, erlaubt es die Gemeinsamkeit des expliziten Wirklichkeitsbezugs, sie unter einem ästhetischen Paradigma des Realismus zusammenzufassen (vgl. Schumacher 2018, 20f., Anm. 2) und von anderen – z.B. postmodernen – ästhetischen Konzepten abzugrenzen (vgl. Jameson 1986, 56ff.; Elsaesser 1986, 309).
Da potenziell jeder realistische »Text« auch eine Ansicht darüber äußert, wie »die Realität« beschaffen ist, bildet realistische Ästhetik ein traditionell stark umkämpftes Feld. In Diskursen über Realismus werden nicht nur Fragen des Schönen verhandelt, sondern ebenso der Wahrheit und der politisch-moralischen Haltung. Der »Text« wird gleichsam als Handlung begriffen, die sich der wiederkehrenden Frage zu stellen hat, welche Konsequenzen aus der Wahl des Wirklichkeitsausschnitts und der ästhetischen Verfahrensweise folgen.
Eine solche von den Konsequenzen ausgehende Argumentation können wir insbesondere in deutschen Debatten über historisch situierte Filme sehr gut nachvollziehen, wo sie regelmäßig auf die »Angemessenheit der Darstellung« geprüft werden. Dieses Moment leitet – erstens – zu der Folgerung hin, dass historische Spielfilme in Deutschland regelhaft dem realistischen Paradigma zugeordnet werden (vgl. Schumacher 2018, 302, Anm. 2). Die wiederkehrende Forderung nach Authentizität bietet wiederum – zweitens – einen Hinweis darauf, dass ein Verständnis von Realismus dominiert, das Wirklichkeitsrepräsentation mit einem Maximum an Ähnlichkeit mit alltäglicher Erfahrung assoziiert. Dafür lassen sich historische Gründe anführen.
In der Bundesrepublik hat sich entlang der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus seit den 1960er Jahren auch eine Tradition didaktisch ausgerichteter Geschichtsdarstellung im Film herausgebildet. Diese Entwicklung korrespondiert mit der Popularisierung psychoanalytischer Thesen, zum Beispiel durch Alexander und Margarete Mitscherlichs 1967 erschienenes Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« (vgl. Freimüller 2011) und einem neo-marxistisch inspirierten Geschichtsverständnis einiger Filmemacher*innen, die ein kollektives »Durcharbeiten« traumatischer Erfahrungen, ein »Lernen-aus-der-Geschichte« nahelegen. Bis heute ist der selbstreflektierende Umgang mit der jüngeren Geschichte ein zentraler Baustein der kulturellen Identität der Bundesrepublik. Im Zuge der sogenannten Vergangenheitsbewältigung erfolgte im Anschluss an die Etablierung eines »zeitkritischen« Presseverständnisses (vgl. Hodenberg 2006) auch die Aufnahme des Films – d.h. zunächst des Fernsehspiels – in das Ensemble einer kritischen Medienöffentlichkeit (vgl. Hickethier 1991, 199; Schildt/Siegfried 2009, 208). Dafür musste er sich dem Ziel der Aufklärung, also auch dem ästhetischen Paradigma des Realismus zuordnen.
Die Verkopplung von Realismus und Ähnlichkeit ist indessen keineswegs selbstverständlich. Für die realistische Ästhetik Bertolt Brechts beispielsweise bildet die Vermeidung von Ähnlichkeit, die durch Mittel der Verfremdung hergestellt werden soll (vgl. Knopf 1986), schließlich eine zentrale Komponente; für Brecht war Realismus in erster Linie auch eine Frage der Haltung, nicht der Form (vgl. Brecht 1988-2000, Bd. 22.2, 424ff. und 436ff.). Brechts Forderung nach einer Verfremdung der Darstellung im epischen Theater leitet sich aus dem wirkungsästhetischen Ziel her: der Emanzipation des Publikums. Durch eine verfremdete, als künstlich erfahrene Darstellung sollen die Zuschauenden in ihrem Illusionserlebnis punktuell gestört und somit in eine distanzierte Rezeptionshaltung versetzt werden, um darüber das Moment der Künstlichkeit an den Inhalten der Darstellung erkennen und sich folglich auch außerhalb des Theaters von vergleichbaren Konstellationen distanzieren zu können (vgl. ebd., 401).
Während der didaktische Ansatz Brechts das Film- und Fernsehschaffen der Bundesrepublik entscheidend prägte, gilt das nicht für die formale Ästhetik, die seine Theorie nahelegt. Was heute als »Mainstream-Realismus« (im Sinne von Jens Eder 2008) im Film verstanden wird, orientiert sich vielmehr an einem Modell des Realismus, das sich in Anlehnung an den italienischen Neorealismus etablierte (vgl. Kirsten 2013, 241) und tatsächlich viele Gemeinsamkeiten mit Brechts »eigentliche[m] Gegenpol« (Knopf 1986, 107, Anm. 14), der naturalistischen Dramatik, hat.
Der neorealistische Spielfilm der 1940er und frühen 1950er Jahre hatte eine große Vorbildfunktion für das europäische Filmschaffen insgesamt. Dieser Einfluss ist nicht allein der ästhetischen Qualität der Filme des italienischen Nachkriegskinos zuzurechnen, sondern liegt ebenso in der emphatischen Aufnahme der französischen Filmkritik begründet, die das hierin erreichte Maximum an Ähnlichkeit zwischen Darstellung und Erfahrungswirklichkeit hervorhob (vgl. Bordwell 1997, 47ff.). Der einflussreichste Fürsprecher, der auch das akademische Verständnis des Neorealismus nachhaltig prägte, war André Bazin (vgl. Glasenapp 2012, 176).
Bazin unterscheidet in seiner Bestimmung des filmischen Realismus zwischen zwei Ebenen: dem grundlegenden Realismus des Films und einem spezifischen Realismus im Film (vgl. Kirsten 2013, 91-108, Anm. 18). Ersterer sei ein Rezeptionseffekt, der sich spontan und unabhängig vom Sujet der Darstellung einstelle (vgl. Bazin 2009 [frz. 1945], 37) und Bazin zufolge in dem spezifischen Verhältnis zwischen dem fotografischen Bild und dem Gegenstand seiner Abbildung begründet liege, der »wie ein Fingerabdruck« die Spur seiner Existenz im Bild hinterlasse (ebd., 39). Von diesem medialen Potenzial leitet Bazin auch eine »realistische Bestimmung der Filmkunst« ab (Bazin 2009 [frz. 1951/52/55], 109), die er schließlich in Filmen des Neorealismus besonders gut repräsentiert findet. Die zentralen Merkmale von Realismus im Film, die Bazin in Filmkritiken – etwa zu Ladri di biciclette (dt. Fahrraddiebe, I 1948, Vittorio de Sica) – beschreibt, liegen zum einen in der kohärenzschwachen, sich nicht auf einen zentralen Konflikt festlegenden Erzählweise und zum anderen in einer Mise en Scène, die sich durch die Einbindung »realer Elemente« auszeichne: tiefenscharf komponierte Panoramaaufnahmen, die an vorfilmisch existenten Orten umgesetzt worden seien, und Laiendarstellende, die durch die Identität von Eigen- und Rollen-Biografie die Glaubhaftigkeit des Figurenportraits garantierten (vgl. Bazin 2009 [frz. 1948]).
In gewisser Weise entspricht die neorealistische Filmästhetik dem Ideal der »absoluten Illusion« (Émile Zola), die die naturalistische Dramatik des 19. Jahrhunderts für das Bühnenbild und die Schauspielkunst anstrebte. Dieselben Ideen finden sich vielfach auch in zeitgenössischen Adaptionen für Realismus in filmischer Form wieder. Was den heutigen »Mainstream-Realismus« jedoch in der Regel von der naturalistischen Dramatik wie dem filmischen Neorealismus unterscheidet, ist die Dramaturgie. Diese ist für populäre Spielfilme zumeist nach einem Konflikt-Auflösungs-Schema in drei bzw. fünf Akten konzipiert; hier ist jedes Element der Erzählung und Darstellung für den Fortschritt der Handlung funktionalisiert (vgl. Eder 1999).
Bazins These, dass der Film eine unmittelbar wirksame Ähnlichkeit mit der phänomenalen Erfahrung der Realität habe, scheint zunächst intuitiv einsehbar. Den realistischen Eindruck allein über die Ähnlichkeit mit der Realität unserer Erfahrung zu erklären, ist dennoch nicht zufriedenstellend, weil jeder Film schließlich auch ein komplexes artifizielles Konstrukt darstellt, das in vielen basalen Aspekten eben nicht unserer Alltagswahrnehmung entspricht: etwa in der Begrenzung durch den Bildkader, der Unterbrechungen der Kontinuität durch wechselnde Bildansichten sowie in den ständigen Veränderungen von Nähe und Distanz gegenüber dem Betrachteten, ohne dafür selbstständig den Standpunkt der Beobachtung wechseln zu müssen. Auch diese Einschätzung findet sich bereits in der klassischen Filmtheorie resp. Wahrnehmungstheorie (vgl. Arnheim 2002 [1932]). Über diese Aspekte hinwegzusehen, ist eine erlernte Kompetenz, eine Folge unserer Medienerfahrung. Da diese anhand von historisch spezifischen Ausdrücken erworben wird, liegt nahe, auch den Ähnlichkeitseindruck als einen Effekt zu betrachten, der erst produziert werden muss.
Authentizität und der Effekt des Realismus
Meine Einschätzung beruht auf Roland Barthes’ Ausführungen zum »Wirklichkeitseffekt« (frz. »Effet de réel«) der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Barthes 2009 [1968]). Mit dem »Wirklichkeitseffekt« fasst Barthes zunächst einen Eindruck von Plastizität, der durch einen Überschuss an »scheinbar funktionslosen Details« in der realistischen Beschreibung provoziert wird – Details, die nicht dazu verhelfen, etwa den sozialen Status einer Figur einzuschätzen, sondern nur signalisieren, »wir sind das Wirkliche« (ebd., 171). Der Eindruck, dass eine solche Beschreibung unserer Wahrnehmungsrealität entspricht, generiert sich jedoch nicht direkt aus der Ähnlichkeit zwischen der Beschreibung und der phänomenalen Erfahrung, sondern vielmehr über die erfahrene Differenz gegenüber anderen literarischen Formen, in denen jedes Detail für das Verständnis der Handlung funktionalisiert ist (ebd., 170; vgl. Zeller 1987 [1980]).
Vergleichbares lässt sich für filmische Realismen konstatieren: Wie Jörn Glasenapp herausstellt, konnte beispielsweise Fahrraddiebe vor allem deswegen realistisch wirken, weil der Film sich prägnant von Produktionen aus Hollywood unterscheidet, aus denen das überwiegende Angebot an Spielfilmen damals bestand (Glasenapp 2012, 183ff.). Der Film legt diesen Vergleich sogar in einer Szene nahe, in der der Protagonist ein Plakat für den US-amerikanischen Spielfilm Gilda (USA 1946, Charles Vidor) an eine Hauswand anbringt und, weil seine Aufmerksamkeit von der abgebildeten Rita Hayworth gefesselt ist, nicht rechtzeitig bemerkt, dass sein Fahrrad gestohlen wird (Abb. 1). Gilda steht hier beispielhaft für ein filmästhetisches Konzept, von dem sich Fahrraddiebe radikal unterscheidet, in der Dramaturgie der Filmerzählung wie auch der Mise en Scène, die dem exotischen Setting, den Studiobauten und der expressiven Ausleuchtung des Film Noir die scheinbar ungestellte Realität der italienischen Nachkriegszeit gegenüberstellt (Abb. 2).
Die Aktivierung der Differenzerfahrung setzt voraus, dass den Rezipierenden die Bezugs- bzw. Abgrenzungsfläche bekannt ist, damit sich vor ihrem Hintergrund der Eindruck eines gesteigerten Realismus voll entfalten kann; sie müssen dafür also gleichsam eine Gegenüberstellung von stilistisch unterschiedlichen Ausdrücken imaginieren. Rezeptionsanreize für solche imaginären Gegenüberstellungen sind allerdings nicht allein Filmen eingeschrieben, die sich dem realistischen Paradigma zuordnen. Sie gehören auch zur Tradition des Genrekinos, wo mit der Produktion von Remakes auch ihre Vorgänger (Premakes) in Erinnerung gerufen werden, sowie zum Konzept des Reboots, das in jüngerer Zeit im Bereich von Comic-Adaptionen (z.B. Batman Begins [USA 2005, Christopher Nolan]) und anderen prominenten Erzählreihen der Populärkultur realisiert wurde (z.B. Star Trek [USA 2009, J.J. Abrams]; Rise of the Planet of the Apes [USA 2011, Rupert Wyatt]).
Obgleich solche Filme gerade nicht nach Realismus in Erzählung und Darstellung streben, liegt ihrer Wirkungsästhetik letztlich dasselbe Prinzip der Provokation einer ästhetischen Differenzerfahrung zugrunde. In minimaler Hinsicht kann diese auch auf den Eindruck eines gesteigerten Realismus zielen. So erscheint beispielsweise das Reboot Batman Begins im Vergleich zu den Vorgängerfilmen aus den 1990er Jahren bereits durch die Bildästhetik auch im Realismus der Darstellung gesteigert, weil sich die erdige Tönung und die rauen Texturen im Szenenbild so prägnant von der expressiven Farbigkeit und den glatten Oberflächen von z.B. Batman & Robin (USA 1997, Joel Schumacher) unterscheiden (Abb. 3 und 4).
Diesen »Oberflächen-Realismus« zeichnet auch beispielsweise Exodus: Gods and Kings (dt. Exodus – Götter und Könige, USA 2014, Ridley Scott) aus, der quasi ein Remake des Monumentalfilms The Ten Commandments (dt. Die zehn Gebote, USA 1956, Cecil B. DeMille) darstellt, und damit ebenso aus der imaginären Gegenüberstellung ein Potenzial für den realistischen Eindruck schöpfen kann (Abb. 5 und 6).
Der Unterschied zwischen diesen Beispielen ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass den Rezipierenden die dafür notwendige Bezugsfläche auch präsent ist, im Falle des letzteren Films wesentlich geringer ausfällt, da nicht nur die Kenntnis des spezifischen Vorgängerfilms, sondern auch generell die Stilmerkmale des klassischen Hollywoodfilms heute nicht mehr vorausgesetzt werden können. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Film wie Exodus nicht dennoch in gewisser Hinsicht als zumindest oberflächig realistisch erscheinen kann. In diesem Fall hat der »Effet de réel« jedoch eine andere Grundlage.
Wie Barthes weiter ausführt, bilde die Differenzerfahrung nur eine von zwei Komponenten des »Wirklichkeitseffekts«. Dieser entfalte sich nur, wenn zugleich ein Moment des Wiedererkennens eintrete. Dabei sei es nicht zwingend das Wiedererkennen der eigenen Erlebniswelt, von der viele fiktionale Werke schließlich auch stark abwichen, sondern vielmehr eine Strukturähnlichkeit mit faktualen Ausdrucksformen (z.B. Werke der Geschichtsschreibung), die den Eindruck des gesteigerten Realismus beförderten, indem sie »die Zwischenräume zwischen ihren Funktionen mit strukturell überflüssigen Eintragungen auffüllen« würden. Ebenso sei es die Ähnlichkeit zwischen einer Beschreibung der Stadt Rouen und einem Gemälde desselben Sujets, die ihr den Eindruck von Realismus verleihe (vgl. Barthes 2009 [1968], 168). Barthes bezeichnet daher die entsprechenden Passagen in der realistischen Literatur auch als Nachbildungen, mit denen etwas nachgeahmt werde, »was bereits die Vortäuschung einer Wesenheit ist« (ebd.).
Im Anschluss an Barthes lässt sich somit zusammenfassen, dass der Eindruck des Realismus (im Sinne des »Wirklichkeitseffekts«) aus einem Zusammenspiel zweier, nur analytisch zu trennender Dimensionen der ästhetischen Erfahrung entsteht: der Differenz gegenüber als nicht-realistisch gesetzten Ausdrücken und der Ähnlichkeit mit solchen, die bereits als eine adäquate Wirklichkeitsabbildung anerkannt sind. Dieser Rezeptionseffekt wirkt in Abhängigkeit von der Medienerfahrung der Rezipierenden und ist somit historisch variabel.
Aus diesem Grund kann sich das Verhältnis zwischen den Komponenten des Wirklichkeitseffekts auch ändern: Dass ein Film wie Fahrraddiebe heute noch als realistisch erscheinen kann, dürfte weniger an der imaginären Gegenüberstellung mit dem klassischen Hollywoodstil im Zuge der Rezeption liegen, denn an der inzwischen erfolgten Konventionalisierung der ästhetischen Mittel der Erzählung und Darstellung, die diesen Film auszeichnen. Authentizität ist in diesem Spiel ein spezifischer Rezeptionseffekt, der in der Aktivierung des Glaubens an die Echtheit einer Darstellung, an eine vermeintlich irreduzible Spur des Realen, die sich in der Darstellung eingeschrieben findet, besteht. Dieser Effekt lässt sich auf verschiedene ästhetische Strategien zurückführen, die im nächsten Schritt systematisiert werden.
Ästhetische Strategien der Authentifizierung im historischen Spielfilm
Für die Film- bzw. Medienanalyse lässt sich im Einzelnen zwischen Verfahren auf der Ebene der Narration und jenen der Darstellung differenzieren; die dritte Ebene bilden paratextuell vermittelte Authentizitätsversprechen.
Verfahren der Authentifizierung auf der Ebene der Narration
Populäre historische Spielfilme, die sich über das Kino oder das Fernsehen an ein Massenpublikum richten, sind in der Regel nach dem konventionellen Akt-Schema (s.o.) aufgebaut, das auf leichte Verständlichkeit zielt. Aus diesem Grund stellt sich das historische Portrait als lückenlose Kette kausaler Beziehungen dar, die kaum Fragen des »Warum« einer historischen Entwicklung offenlässt. Wie die Forschung vielfach festgestellt hat, sind solche Spielfilme selten innovativ im Sinne der Produktion von neuen Interpretationen der Geschichte; sie bestätigen vielmehr in der Regel populär etablierte Geschichtsbilder. Für die Erzählung greifen sie Motive auf, die aus anderen Darstellungen bereits bekannt sind, und provozieren damit in der Rezeption ein Moment des Wiedererkennens, das dem Eindruck der Authentizität zuträgt. Demselben Prinzip gehorcht auch die Figurenkonzeption.
Die Glaubhaftigkeit von Figuren im »Mainstream-Realismus« basiert nach Jens Eder auf ihrer individualisierten und transparenten Gestaltung (Eder 2008, 402ff., Anm. 17). D.h., sie entsprechen »in weiten Teilen […] vertrauten Typen« und sind gerade soweit mit spezifischen Eigenschaften ausgestattet, dass sie als eigenständige »fiktive Wesen« erscheinen können (ebd., 403). Diese erscheinen authentisch, weil sie alltagspsychologischen und -soziologischen Vorstellungen der Produktionsgegenwart entsprechen und darüber plausible Erklärungen für ihr Verhalten anbieten (ebd., 404). Mit dieser psychologisch-soziologisch hergeleiteten Motivation von Figurenhandeln knüpft der konventionelle Spielfilm an Traditionen der naturalistischen Dramatik an. Das gilt auch für die Dialoggestaltung und ihre performative Ausführung im Schauspiel, in der soziale und regionale Herkunft zumeist in schichtspezifischen Gruppensprachen und einer deutlichen Dialektfärbung markiert wird.
Das Streben nach Verständlichkeit über Ähnlichkeit macht Figurenkonzepte des »Mainstream-Realismus« anfällig für Stereotypisierung. Das gilt vielleicht in besonderem Maße für den historisch situierten Spielfilm, in dem Figuren der Personalisierung von Geschichte dienen. Sehr häufig finden sich gesellschaftliche Gruppen in einer Figur kondensiert, während politische und soziologische Konstellationen in Familienkonflikte übersetzt sind. Dies lässt sich beispielhaft an dem Spielfilm Das Wunder von Bern (D 2003, Sönke Wortmann) nachvollziehen, der den (west-)deutschen »Nationalmythos« vom überraschenden Sieg der Fußballweltmeisterschaft 1954 mit dem Portrait einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet verwebt.
Der Vater ist ein »Spätheimkehrer«, ein Wehrmachtssoldat, der erst Anfang der 1950er Jahre aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt und zumindest teilweise noch den Idealen des Nationalsozialismus anhängt. Die Mutter ist nach dem Typus der »Trümmerfrau« gestaltet, die während der Abwesenheit des Mannes die Familie allein »durchgebracht« hat: stoisch, schwer arbeitend und anpassungsfähig. Die Kinder wiederum repräsentieren verschiedene Aspekte der Nachkriegsgesellschaft: Der älteste Sohn definiert sich politisch über seine Ablehnung der Vatergeneration und entscheidet sich folglich auch, in die DDR überzusiedeln; ihm gegenüber steht die Tochter der Familie, die durch ihre Vorliebe für Swing und Rock’n’Roll die westdeutsche Konsumorientierung nach US-amerikanischem Vorbild verkörpert; der jüngste Sohn wiederum, der Protagonist des Films, ist ohne eigene Erinnerung an den Vater und den Nationalsozialismus aufgewachsen und steht somit für die Hoffnung des Neuanfangs der jungen Bundesrepublik.
Die – häufig recht offensiv angelegte – repräsentative Funktion von Figuren für historische Darstellungen stellt eine bemerkenswerte Abweichung von der typischen Figurenkonzeption populärer Spielfilme dar. Sie hat zur Folge, dass der Fortschritt der Handlung zwar, dem Schema populären Filmerzählens entsprechend, von den Wünschen und Zielen der Figuren bestimmt zu sein scheint. Zugleich kennzeichnet solche Figuren aber auch, dass sie sich »durch die Geschichte« bewegen, wie Schachfiguren auf einem Spielfeld, die nur bestimmte Züge vollziehen können. Wenn wir diese Ausgangskonstellation mit Fragen zur Repräsentation konfrontieren, lässt sich weiter untersuchen, inwiefern diese Figuren etablierten Stereotypen von race, class und gender entsprechen und welche intersektionalen Verbindungen sich hier auftun. Dabei sind weitere Komponenten der Filmästhetik zu beachten, die weiter unten erläutert werden.
Verfahren der Authentifizierung auf der Ebene der Darstellung
Authentifizierende Verfahren der Darstellung sind vielfältig; sie lassen sich aber in drei Hauptgruppen sortieren: (1) direkte Zitate, (2) Nachbildungen und (3) Szenenbildgestaltung.
Unter »direkten Zitaten« (1) verstehe ich die Integration von Fotografien oder Filmausschnitten (Found Footage), aber auch von Radiobeiträgen oder anderen Ton-Dokumenten in die filmische Inszenierung. Diese können mehr oder weniger auffällig platziert sein. In Das Wunder von Bern finden sich wiederholt Mitschnitte der Radioübertragung der Fußballweltmeisterschaft von 1954 – sie laufen im Hintergrund, und wir können beobachten, wie die fiktiven Figuren darauf reagieren. Auf diese Weise verschmelzen sie geradezu mit der Inszenierung.
Wenn solche »direkten Zitate« den Fluss der Filmerzählung allerdings unterbrechen, können sie einen verfremdenden Effekt generieren. Ein Beispiel, dem sogar eine Brecht’sche Intention zugrunde liegt, findet sich zu Beginn des Fernsehspiels Mauern (BRD 1963, Egon Monk). Dieses wird durch eine ca. vierminütige Kompilation eingeleitet, die mithilfe einer kontrastreich montierten Folge von Fotografien und Found Footage einen Zusammenhang zwischen der jüngeren deutschen Vergangenheit und dem Bau der Berliner Mauer 1961 evoziert. Um die Konzentrations- und Vernichtungslager in Erinnerung zu rufen, werden hier neben Fotografien auch Aufnahmen aus dem französischen Dokumentarfilm Nuit et brouillard (dt. Nacht und Nebel, F 1956, Alain Resnais) genutzt. Ausschnitte der Bilderfolge, die Gebäude aus Ausschwitz-Birkenau im gegenwärtigen Zustand der Produktion zeigen, wurden für das Fernsehspiel in Schwarz-Weiß konvertiert (Video 2 und 3) und auditiv mit einer Rede von Joseph Goebbels unterlegt, die – als Sound Bridge eingesetzt – auch diesen Abschnitt der Montagesequenz mit dem Folgenden verbindet.
Zum Zeitpunkt der Produktion und Ausstrahlung des Fernsehspiels war die Einbindung von Found Footage innerhalb der Spielfilmform noch weniger gebräuchlich, das Prinzip der Kompilation aber aus dokumentarischen Produktionen bekannt – z.B. aus der vom 20. Oktober 1960 bis 19. Mai 1961 im Deutschen Fernsehen gesendeten Reihe Das Dritte Reich (SDR/NWRV). Die mithilfe dieses Verfahrens eingebundenen Bildfolgen konnten daher über den »Umweg«, dass darüber Mittel der dokumentarischen Erzählung und Darstellung in Erinnerung gerufen werden, quasi als »Einbruch der Wirklichkeit« in die Fiktion aufgenommen werden. Da Nuit et brouillard 1957 auch im Deutschen Fernsehen gesendet und überdies seit diesem Jahr auch in der Bundesrepublik über die Bundeszentrale für Heimatdienst vertrieben wurde (Thiele 2001, 188f.), konnten zudem potenziell sogar die Bilder selbst auch damals schon ein Moment des Wiedererkennens provozieren. Heute gilt dies mit großer Wahrscheinlichkeit.
Für das authentifizierende Wirkungspotenzial der Bildfolge aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern ist zunächst der besondere Status der »Lagerfotografie« im Rahmen der heutigen Erinnerungskultur zu beachten. Cornelia Brink bezeichnet diese Bilder auch deswegen als »Ikonen der Vernichtung«, weil sie den orthodoxen Heiligenbildnissen vergleichbar eine Spur des Ereignisses selbst in sich zu tragen scheinen (Brink 1998, 237). Diese Bedeutung konnten sie allerdings, wie auch andere »Ikonen der Medienkultur« (Viehoff/Fahlenbrach 2003), erst durch einen erlernten Gebrauch erhalten: Manche dieser Bilder wurden so häufig im Kontext von Darstellungen der Shoah zitiert, dass sie heute reflexartig die historischen Ereignisse in Erinnerung rufen können.
Ein Bild wie die Fotografie des schmiedeeisernen Tors des KZ Buchenwald mit dem eingelassenen Schriftzug »Jedem das Seine« (Abb. 9) ist daher so fest im kulturellen Gedächtnis verankert, dass auch ein indirektes Zitieren ausreichen kann, um den Authentizitätseffekt zu erzielen. So wird beispielsweise in der Neuverfilmung des DDR-Jugendbuchklassikers Nackt unter Wölfen (D 2015, Philipp Kadelbach), als der Protagonist zu Beginn der Handlung das KZ Buchenwald betritt, das bekannte Foto zwar nicht direkt eingebunden, aber in seinem Aufbau so nahe an der Vorlage re-inszeniert, dass die Referenz sofort erkennbar ist (Abb. 10). Solche indirekten Zitate zählen zur zweiten Gruppe von authentifizierenden Verfahren, die ich unter dem Begriff der »Nachbildungen« zusammenfasse.
Nachbildungen (2) zielen auf einen Déjà-vu-Effekt. Sie generieren den Authentizitätseindruck über die Ähnlichkeit mit – vielleicht nur vage – bekannten Vorlagen. Der Einsatz dieses Verfahrens lässt sich bis in die Frühgeschichte des Films zurückverfolgen (Koch 2003), etwa am Beispiel des dreiteiligen Stummfilms Der Film von der Königin Luise (D 1912/13, Franz Porten), der die Begegnung zwischen der preußischen Königin und Napoleon Bonaparte 1807 im ostpreußischen Tilsit (heute Sowetzk) auf eine Weise in Szene setzt, die auf diverse bildliche Darstellungen dieses Zusammentreffens zurückgeführt werden kann, wie etwa eine Illustration aus »Die König Luise in 50 Bildern für Jung und Alt« (Röchling 1896) (vgl. Abb. 11 und 12). Da Königin Luise eine äußert populäre Figur in der Erinnerungskultur des Kaiserreichs war, kann davon ausgegangen werden, dass damals nicht nur die dargestellte Situation bekannt war, sondern auch die Komposition der Bildelemente, und den Zuschauenden die Darstellung daher passend, also authentisch erschien.
Mithilfe der ikonografischen Methode lassen sich jedoch nicht nur Vorbilder der Mise en Scène von historischen Spielfilmen aufspüren, sondern auch die feinen Unterschiede und Abweichungen von der Vorlage. Ein Spielfilm, der sich durch einen vielfältigen Einsatz von Nachbildungen auszeichnet, ist Der Baader Meinhof Komplex (D 2008, Uli Edel). Die Geschichte der Rote Armee Fraktion (RAF), die hier auf der Basis von Stefan Austs gleichnamigen Sachbuch (1985) erzählt wird, verfügt über einen reichen Fundus an mittlerweile ikonischem Bildmaterial: Flugblätter, Fahndungsplakate, die an Litfaßsäulen und öffentlichen Gebäuden aushingen, Pressefotos, Filmaufnahmen aus Fernsehnachrichten und Dokumentationen, Interviewmitschnitte usw. – sie alle finden sich in der Filminszenierung wieder. Die Gesichter der RAF-Mitglieder sind jedoch durch die der Darstellenden ersetzt (Abb. 13), und bekannte Interviewaussagen, wie von Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin überliefert, wurden von den Schauspielerinnen neu eingesprochen. Diese Verfahren verleihen dem Film einen Eindruck von Kohärenz und sollen zudem die Zuschauenden vergessen lassen, dass die historischen Figuren von sehr bekannten Akteur*innen des deutschen Films (z.B. Martina Gedeck als Ulrike Meinhof) verkörpert werden.
Darüber hinaus sind die Nachbildungen von Medienikonen in Der Baader Meinhof Komplex wie Tableaux Vivants re-inszeniert, d.h. bekannte statische Abbildungen stellen sich hier in Bewegung dar. Eine weitere Steigerung des Authentizitätseffekts dieses Verfahrens wird darüber erreicht, dass im Zuge der Nachbildung zugleich die Bedingungen der Bildproduktion thematisiert werden. Als am Ende der Sequenz, die im ersten Drittel der Handlung die Ereignisse während der Demonstration anlässlich des Staatsbesuchs des Schah von Persien in West-Berlin darstellt, der Student Benno Ohnesorg erschossen wird, suggeriert die Inszenierung, dass wir genau jenen Augenblick beobachten, als die ikonische Fotografie von Jürgen Henschel vom 2. Juni 1967 entstand: Die Filmkamera nimmt dafür eine Position linksseitig hinter dem Fotografen ein, etwa auf Augenhöhe der von Leonie Brandis verkörperten Friederike Dollinger, die in der Originalaufnahme den blutigen Kopf des auf der Straße liegenden Benno Ohnesorg hält. Zum Anschluss der Sequenz bekommen wir nur das Blitzlicht zu sehen, das die Szenerie erhellt, die Medienikone selbst wird nicht gezeigt (siehe Abb. 14).
Hier lohnt sich auch eine genauere Betrachtung der Bildvorlage selbst (Abb. 14). Der Aufbau der Fotografie erinnert stark an eine Pietà: Friederike Dollinger hält den Körper des jungen Mannes im Arm wie Maria ihren Sohn Jesus nach der Kreuzigung. Henschel hat dieses Motiv nicht bewusst re-inszeniert, sondern zufällig in jenem Augenblick den Auslöser betätigt, als sich das Ereignis zugetragen hatte. Das Ergebnis zeigt dennoch eine kulturgeschichtlich »aufgeladene« Pose, worin letztlich auch die Eignung der Fotografie als »Schlüsselbild« für die Studentenproteste mitbegründet liegt (vgl. Viehoff/Fahlenbach 2003, 54-58, Anm. 40). Denn auch wenn nicht alle Betrachtenden – damals wie heute –bewusst darin die Pietà wiedererkennen, ist das Bildmotiv in christlich geprägten Kulturkreisen so bekannt, dass damit eine symbolische Aussage vermittelt werden kann: Wie Jesus, der nach der christlichen Überlieferung für die Sünden der Menschheit gestorben ist, liegt Ohnesorg hier als Märtyrer, während Dollinger mariengleich das unverschuldete Leid repräsentiert. Dabei ist auch zu bemerken, dass die Rollenverteilung geschlechtlich kodiert ist: Eine umgekehrte Konstellation – ein Mann hält eine Frau – hätte nicht dem ikonischen Vorbild entsprochen und somit kaum denselben Symbolgehalt entfalten können.
Im direkten Vergleich zwischen der Fotografie und ihrer Nachbildung in Der Baader Meinhof Komplex lässt sich indessen ein bemerkenswerter Unterschied erkennen: Die Nachbildung zeigt Friederike Dollinger mit einer erhobenen, blutbefleckten rechten Hand (siehe Abb. 15 u. 16). Damit wird die Brutalität der Tat visuell exponiert, die metonymisch für die staatliche Reaktion auf die Studentenproteste steht. Überdies findet hier jedoch eine symbolische Übertragung statt: Mit dem Blut an Dollingers Hand heftet sich auch die Gewalt der Ereignisse an die Vertreterin der Studentenproteste, deren folgende Aktionen – und nicht zuletzt auch die Gründung der RAF – somit als Reaktion auf diese Ereignisse gedeutet werden.
Ein direkter Vergleich zwischen dem Vorbild und der Nachbildung kann häufig zeigen, dass letztere auf den zweiten Blick keine exakten Reproduktionen sind. Dies liegt aber kaum in einer Nachlässigkeit der Produzierenden begründet, sondern ist vielmehr als kalkulierte Anpassung an die Umgebung des Films einzuschätzen, die dem Authentizitätseffekt zuarbeiten soll (vgl. Steinle 2009). Eine in dieser Hinsicht bemerkenswerte Abweichung von der Vorlage im Zuge der Nachbildung zeigt sich in dem Fernsehfilm Katharina Luther (D 2017, Julia von Heinz). In einer Szene werden Martin Luther und seine Ehefrau Katharina von Bora von Lucas Cranach dem Älteren portraitiert. Cranachs Luther-Bilder sind weithin bekannt, und die Ähnlichkeit zwischen dem hiermit überlieferten Aussehen Luthers und dem Schauspieler Devid Striesow ist ebenfalls relativ groß; das gilt auch für das unfertige Portrait desselben, das im Szenenbild prominent platziert ist (Abb. 17).
Katharina von Bora hingegen sieht darauf aus wie die sie verkörpernde Schauspielerin Karoline Schuch (Abb. 18).
Zusätzlich lässt uns diese Szene aber auch an der Entstehung eines Doppelportraits des Ehepaars teilhaben, für das in dieser Form keine Vorlage überliefert ist. Stattdessen existieren zwei separate Portraits, die im Deutschen Historischen Museum lediglich nebeneinander hängen (Abb. 19), und von Boras Kostüm ist hier offenkundig von einer weiteren Darstellung inspiriert (Abb. 20).
Nachbildungen, die Vorlagen ergänzen und »umschreiben«, enthält auch der im Herbst 2017 ausgestrahlte Beitrag der ARD-Krimi-Reihe Tatort mit dem Titel Der rote Schatten (BRD, Dominik Graf). Für die Handlung des Films sind zwei Figuren zentral: eine Frau, die als Mitglied der sogenannten zweiten Generation der RAF noch immer im Untergrund lebt und für den Überfall eines Geldtransporters mitverantwortlich ist, mit dem die Handlung ihren Anfang nimmt, und ihr früherer Freund, der als Informant für den Staatsschutz tätig war. Wie aus einer Rückblende deutlich wird, waren beide bei der Beerdigung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe im Herbst 1977 zugegen. Zur Visualisierung nutzt der Film Aufnahmen aus dem bekannten Episodenfilm Deutschland im Herbst (BRD 1978, Rainer Werner Fassbinder), die als Reaktion von namhaften Akteur*innen des Neuen Deutschen Films direkt nach den Ereignissen von 1977 entstanden. Im Anschluss an die Rückansicht eines Paares (Abb. 21) aus diesem Film, folgt eine für den Tatort inszenierte Vorderansicht (Abb. 22), die in der Bildqualität so bearbeitet wurde, dass sie sich nahtlos in die älteren Aufnahmen einpasst und somit als genuiner Bestandteil der aus Deutschland im Herbst überlieferten Bilderfolge erscheint.
Dieses raffinierte Detail blieb in der allgemeinen Rezeption wahrscheinlich unbemerkt. Es wurde auch von auffälligeren Passagen überlagert, zu denen vor allem die Inszenierung zweier möglicher Szenarien der sogenannten Todesnacht von Stammheim zählen, die dem Stuttgarter Kommissar Lannert während einer konspirativen Unterredung mit einem früheren Mitarbeiter des Verfassungsschutzes angeboten werden: Die erste Version zeigt den Suizid von Baader, Ensslin und Raspe; die zweite Version die Möglichkeit, dass diese von staatlicher Seite ermordet und ihre Leichen anschließend so platziert worden seien, dass ihr Tod als Suizid erscheint. Die visuelle Inszenierung der Vorgänge imitiert die grobkörnig anmutende Bildqualität von Super-8-Aufnahmen und weist darüber auch eine rötliche, beinahe »blutige« Einfärbung auf. Nach der Ausstrahlung geriet der Film vor allem für diese Passage in die Kritik. Stefan Aust bezeichnete ihn in der »Bild«-Zeitung deswegen als »gefährlichen Unsinn« und »RAF-Propaganda« (Aust, zit. n. Focus 2017). Daraus spricht auch die verbreitete Sorge, dass die Mehrheit der Zuschauenden die Spielregeln des fiktionalen Diskurses nicht beherrschten und einen Genrefilm mit einer zeithistorischen Dokumentation verwechseln könnten.
Alle bislang skizzierten Variationen von Nachbildung würden kaum einen Authentizitätseffekt entfalten können, wenn sie nicht durch jene Gruppe von Verfahren komplettiert würden, die zur Gestaltung eines stimmigen historischen Szenenbilds (3) gehören: »zeittypische« Architektur und Requisitenausstattung, Kostüme, Make-up, die Imitation von Lichtverhältnissen und Farbfilter, die die Stimmung des darzustellenden Zeitraums charakterisieren – Pastelltöne für die 1950er und ein kräftiges Orange für die 1960er Jahre, während die späten 1970er und die 1980er Jahre meist ein verwaschenes Braun tragen. Diese Verfahren erzeugen im Zusammenspiel das Temporalkolorit und provozieren insofern immer eine Differenzerfahrung, als sich die dargestellte Welt offensichtlich von der Gegenwart unserer Erfahrung unterscheidet. Aus diesem Grund bezeichnete der Schriftsteller Lion Feuchtwanger die »historische Einkleidung« auch als »die einfachste Art [,] die Illusion der Realität zu erzielen« (Feuchtwanger 1984 [1935], 496). Das Szenenbild eines Spielfilms ist jedoch immer zeitgenössische Interpretation der Vergangenheit, eine Übersetzung in die Sprache der Gegenwart.
Wenn wir uns heute ältere Filmbeispiele ansehen, sind die Anpassungen an Moden und Trends der jeweiligen Produktionszeit, die der Szenenbildgestaltung regelhaft zugrunde liegen, aus der historischen Distanz gut zu erkennen. So wird beispielsweise die ägyptische Königin Kleopatra immer mit kohlschwarz geschminkten Augen dargestellt. Im Stummfilm von 1917 (USA, J. Gordon Edwards) trägt sie jedoch das für diesen Zeitpunkt typische expressive Make-up weiblicher Akteure (Abb. 23), während Elizabeth Taylor in der Hauptrolle der Fassung von 1963 (USA, Joseph L. Mankiewicz) mit ihrem geschwungenen Lidstrich und dem toupierten Haar eine geradezu perfekte Verkörperung eines Filmstars der 1960er Jahre darstellt (Abb. 24).
Dass uns in der Betrachtung von neueren Spielfilmen dieses modische Moment der Filmästhetik nicht so deutlich ins Auge fällt, hat zum einen mit der mangelnden historischen Distanz zu tun, zum anderen aber auch damit, dass sich nach dem Zusammenbruch des Hollywood-Studio-Systems ein anderes Konzept für historisch situierte Filme als Mainstream durchgesetzt hat: das Retro-Konzept, das nach einer perfekt anmutenden Nachahmung strebt. Das Musterbeispiel für »Geschichte als Retro-Scenario« (siehe Baudrillard 1978) ist der Spielfilm Barry Lyndon (GB/USA 1975, Stanley Kubrick), der für diesen Effekt die akademische Malerei des 18. Jahrhunderts imitiert. Ein bekanntes (west-)deutsches Beispiel aus demselben Produktionszeitraum bietet indessen der im ZDF ausgestrahlte, zweiteilige Fernsehfilm Tadellöser & Wolff (BRD 1975, Eberhard Fechner): Hier ließ sich nicht nur die Ausstattung der »historischen Welt« von Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus anleiten, sondern die visuelle Inszenierung imitiert auch den Stil der Ufa-Filmästhetik aus dem portraitierten Zeitraum. Ein vergleichbares Retro-Konzept lässt sich auch der neueren Netflix-Serie Stranger Things (USA 2016-, Matt Duffer/Ross Duffer) attestieren, die sich für die Erzählung und Darstellung an Motiven aus Spielfilmen der 1980er Jahre bedient.
Häufig sind es auch heute allerdings gerade nicht Vorlagen aus dem darzustellenden Zeitraum, sondern andere historistische Darstellungen, die als Inspirationsquelle für Bauten, Kostüme und Lichtstimmung von historischen Spielfilmen dienen. Produktionen, die mythische Figuren des englischen Mittelalters wie z.B. König Artus ins Zentrum rücken, beziehen sich gern auf Motive der Präraffaeliten, einer Kunstausrichtung des viktorianischen Historismus, deren Stil sich durch mythische Motive, Naturromantik und eine farbintensive und detailreiche Ölmalerei auszeichnet. Das Szenenbild der römischen Antike von jüngeren Filmen wie Gladiator (USA 2000, Ridely Scott) verweist ebenso auf Vorlagen der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts wie auf »klassische« Monumentalfilme aus den 1950er Jahren (z.B. Quo Vadis [USA 1951, Mervyn LeRoy] oder Ben Hur [USA 1959, William Wyler]), die ihrerseits auf populären Buchvorlagen des ausgehenden 19. Jahrhunderts basieren.
Die Spurensuche nach den Grundlagen des Rezeptionseindrucks von »historischer Authentizität« führt somit nicht selten zu einer Kette von Referenzen, in der für keines der Glieder festgestellt werden kann, dass es sich überhaupt auf die Realität der Vergangenheit selbst bezieht. Sehr viele Filme, deren Handlung in der Vergangenheit situiert ist, nehmen sich dies aber auch gar nicht zum Ziel, sondern streben lediglich an, ein filmintern stimmiges Bild zu erzeugen, das als Hintergrund für spannende und melodramatische Ereignisverläufe dient. Dass sie damit dennoch die Vorstellungsbilder vieler Rezipierenden von der Vergangenheit prägen, ist davon unbenommen.
Die Glaubhaftigkeit von historischen Portraits im Spielfilm, die während der Rezeption durch das hier skizzierte Repertoire an authentifizierenden Mitteln der Erzählung und Darstellung erzeugt werden soll, wird in der Regel noch durch eine Fülle an paratextuell vermittelten Authentizitätsversprechen unterstützt, die bereits im Vorwege die Einschätzung zur Glaubwürdigkeit des Dargestellten beeinflussen können.
Paratextuelle Authentizitätsversprechen
»Paratexte« sind nach Gérard Genette alle, den »Basistext« – hier also den jeweiligen Spielfilm – ergänzende, ihn quasi umrahmende Texte und Textelemente, die seine Rezeption steuern (Genette 1989). Bei historischen Spielfilmen reagieren Paratexte u.a. auf die Ausgangssituation, dass die Mehrheit der Rezipierenden keine Expertise für den portraitierten Zeitabschnitt hat und somit die Glaubhaftigkeit der Darstellung nur schwer beurteilen kann. Als »Authentizitätsversprechen« begreife ich somit alle extratextuellen Markierungen, die zur Unterstützung des Potenzials intratextueller Verfahren beitragen sollen: Neben Inserts, wie »nach einer wahren Begebenheit«, zählen dazu die Gesamtheit von Aussagen der an der Produktion Beteiligten im Rahmen von Interviews, ob nun für das Feuilleton von Tageszeitungen oder für produktionseigenes Ergänzungsmaterial wie Pressemappen oder das sogenannte Making-off. Im Fernsehen gehören dazu auch die anschließende Dokumentation, die Talkrunde und das Zusatzangebot der Mediathek (Abb. 25). Diese Paratexte liefern eine Art Gebrauchsanleitung für den Film. Sie erläutern Verfahren der Authentifizierung, deren Potenzial sich bei der alleinigen Rezeption des Films kaum entfalten würde, weil der überwiegenden Mehrheit die Grundlagen der Bewertung fehlen dürften.
Ein exemplarisches Beispiel für ein Authentizitätsversprechen findet sich auf der Internetseite des Fernsehsenders NDR, Ko-Produzent des bereits vorgestellten Spielfilms Der Baader Meinhof Komplex. Dort findet sich der Verweis auf die Drehbuchgrundlage, Stefan Austs Sachbuch, ergänzt um den Hinweis, dass dieses »als Standardwerk über die RAF-Geschichte gilt« (siehe NDR , Der Baader Meinhof Komplex als Film). Der anschließende Absatz bescheinigt dem Regisseur ein Streben nach »Authentizität« als »[o]berste Maßgabe für die Arbeit an dem Film«. Die Begründung:
»Er drehte an Originalschauplätzen […]. Detailgetreu ist auch die Ausstattung der Filmsets, die vielfach nach Vorlage von Originalfotos und Dokumentarmaterial gestaltet wurden. Die Dialoge entsprechen – sofern möglich – überlieferten Texten und Gesprächsinhalten. Auch bei der Auswahl der Schauspieler legte das Team Wert auf eine möglichst große Ähnlichkeit zu den RAF-Mitgliedern. […] Der Authentizität sind auch einige brutale Szenen geschuldet. Uli Edel beruft sich bei der Inszenierung auf den Polizeibericht. Bei der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback gaben die Täter beispielsweise 15 Schüsse ab – diese Anzahl findet sich im Film wieder.« (ebd.)
Neben der Aufzählung der weiter oben skizzierten ästhetischen Verfahren, die vor allem dem Ähnlichkeitseindruck zuarbeiten, sind hier besonders die Hinweise auf autorisierte Quellen bemerkenswert: das anerkannte Sachbuch, ein Polizeibericht und vage benanntes Dokumentarmaterial, das – mit Ausnahme der Buchvorlage – den Zuschauenden nicht zur Verfügung steht. Erstens verspricht uns diese Filmankündigung, dass die dargestellten Figuren, Orte und Ereignisse in Der Baader Meinhof Komplex nicht erfunden, sondern rekonstruiert wurden. Wir sind somit eingeladen, die Darstellung als Abbildung der historischen Wirklichkeit anzunehmen. Zweitens unterstreicht die Filmankündigung einen Zusammenhang zwischen wahrheitsgetreuer Darstellung und äußeren Ähnlichkeiten, der nicht zwangsläufig besteht, aber den naturalistischen Hang zur Überdetailiertheit erkennen lässt. Drittens verbirgt sich in dieser Aussage aber auch eine Schutzbehauptung: Das Streben nach Authentizität soll die ästhetische Entscheidung legitimieren, dass einige Szenen als »brutal« zu bezeichnen sind, um somit einer moralisch motivierten Kritik an der Gewaltdarstellung vorzugreifen.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Funktion der ästhetischen Verfahren, die ich in diesem Beitrag als Strategien der Authentifizierung zusammengefasst habe, erschöpft sich nicht darin, einem historischen Spielfilm eine Aura der Glaubhaftigkeit zu verleihen. Diese Verfahren produzieren ebenso einen reizvollen Überschuss an Details, der die fiktive Welt eines Films fast so reich eingerichtet erscheinen lassen kann wie die Wirklichkeit. Es bleiben jedoch Einrichtungen. Es ist nur ein gradueller, kein substanzieller Unterschied, ob die historische Welt eines Spielfilms aus vorgefundenen Bausteinen wie Locations oder Found Footage gebaut ist oder aus Gips und Pappe im Studio. Was wir geneigt sind, als Ähnlichkeit gegenüber der Wahrnehmungsrealität anzuerkennen, ist in hohem Maße abhängig von der Gewöhnung. Im Zuge der Konventionalisierung der oben skizzierten Verfahren haben wir gelernt, dass Studiobauten künstlich anmuten, während »Originalschauplätze« oder alte Fotografien eine Spur der Wirklichkeit selbst in sich tragen.
Der Eindruck von Ähnlichkeit ist somit eine historische Variable, für die wir zwar den Glauben an eine Essenz – die irreduzible Spur des Echten –, aber nicht deren Existenz annehmen müssen. Nur vor dem Hintergrund des Unähnlichen, des Fremdanmutenden können wir das Ähnliche erfahren. Authentifizierung wirkt somit wie ein umgekehrter Verfremdungseffekt: Während Verfremdung darauf zielt, die Darstellung artifiziell und darüber uns bekannte Handlungen und Zusammenhänge fremd erscheinen zu lassen, provozieren die ästhetischen Strategien der Authentifizierung den Eindruck, dass wir die fremde Welt eigentlich kennen. Dieser entspricht zwar nicht genau jenem Eindruck, den Brecht als »das habe ich auch schon gefühlt« (Brecht 1988-2000, Bd. 22.1, 110, Anm. 15) zusammenfasst, er basiert aber in vergleichbarer Weise auf einer Ähnlichkeitserfahrung. Überdies scheint mir das Gefühl in hohem Maße zum Authentizitätseindruck beitragen zu können, da die Emotionen, die wir während der Rezeption erleben, schließlich unzweifelhaft »echt« sind.
Filmische Realismuskonzepte, die sich der hier beschriebenen Verfahren bedienen, wurden von Seiten der Filmwissenschaft seit den 1970er Jahren wiederholt aus ideologiekritischen Gründen beanstandet. Da sie an Traditionen der Darstellung anschließen, die von der deutschen Literaturwissenschaft zum Naturalismus gezählt werden, lässt sich auch die Kritik an dieser Strömung auf den aktuell dominanten »Mainstream-Realismus« übertragen. Brecht monierte an der naturalistischen Dramatik, dass die formal-ästhetischen Mittel, um eine »absolute Illusion« des dargestellten Milieus zu reproduzieren, dazu führen würden, dass »wir in bezug [!] auf die Gesellschaft nicht mehr [bekommen,] als das ›Milieu‹ gibt« (ebd., Bd. 23, 78, Anm. 15). In der Konsequenz bewirken diese Mittel damit eine Naturalisierung der sozialen Zusammenhänge, die eigentlich kritisiert werden sollten (vgl. ebd., Bd. 21, 232, 433f., Anm. 15). Diese Hypothese kann eine Perspektive dafür eröffnen, die Auseinandersetzung mit dem Thema »Authentizität im Spielfilm« unter einer medienkritischen Ausrichtung fortzuführen.
Eine kritische Perspektive auf historische Authentizität im Spielfilm (oder auch vergleichbaren Angeboten wie Fernsehserien) erfordert zunächst einen quellenkritischen Umgang mit den Aussagen von Textproduzierenden. Die überwiegende Mehrheit an Informationen, die wir überhaupt über Film- und Fernsehproduktionen erhalten können, ist schließlich in den Rahmen des Marketings eingebunden, d.h. sie dient der Werbung und ist somit zumindest mit Vorsicht zu betrachten. Nur weil Authentizität als oberste Maßgabe für die Filmgestaltung behauptet wird, müssen hierin nicht alle ästhetischen Entscheidungen begründet liegen. Es kann sich auch um eine Schutzbehauptung handeln, die der Kritik vorbeugen soll. Dies kann exzessive Gewaltdarstellungen betreffen, wie z.B. die häufigen Szenen der Vergewaltigung und Folter von Frauen in Mittelalter-Sujets – man denke etwa an TV-Movies wie Die Wanderhure (BRD/AUT 2010, Hansjörg Thurn) oder die Fantasy-Serie Game of Thrones (USA 2011-2019, David Benioff/D.B. Weiss) –, oder zentrale Casting-Entscheidungen. So haben z.B. jüdische Figuren in Holocaustdarstellungen offenbar einem »dunklen« Typus nach orientalistischem Vorbild zu entsprechen, bekannte Figuren der Kulturgeschichte – ob nach realgeschichtlichem oder mythischem Vorbild – werden in der Regel von weißen Darstellenden verkörpert.
Nähere Betrachtung verdient auch die Figurenkonzeption in historischen Spielfilmen des »Mainstream-Realismus«. Da Figuren hier neben ihrer Gestalt als fiktive Wesen mit Wünschen und Zielen auch eine repräsentative Funktion für historische Mentalitäten aufweisen, die populär leicht verständlich sein sollen, lässt sich die Analyse historischer Authentizität sehr gut mit Forschungsfragen zur Stereotypisierung und Repräsentationspolitik verbinden: Wer wird, erstens, überhaupt repräsentiert und, zweitens, in welcher Weise werden Figuren entlang der Kategorien von Geschlecht, Ethnie, Religion usw. konzipiert, um historische Mentalitäten zu repräsentieren? Welche Konstellationen, die vergeschlechtliche und rassifizierte Wissensbestände aufgreifen, lassen sich hier feststellen?
Eine diskursanalytisch zu bearbeitende Frage betrifft den Zusammenhang zwischen der Forderung nach Authentizität – als Ähnlichkeit und Detailtreue – und der Sorge nach einer »angemessenen Darstellung« der Themen, denen sich historische Spielfilme widmen. Anscheinend gelten diese Bewertungskategorien nicht für alle Darstellungen mit historischem Sujet. Zunächst sind sie nur für solche sinnvoll anwendbar, die auch signalisieren, dass sie im Unterschied zu Legenden, mythischen Szenarien oder Abenteuern »Geschichte« erzählen. Für die öffentliche Kritik scheint aber, zweitens, auch der historische Abstand und mithin das vorausgesetzte Wissen der Rezipierenden eine Rolle zu spielen: Das Aussehen Martin Luthers beispielsweise ist durch zahlreiche Bildüberlieferungen weit bekannter als das seiner Ehefrau Katharina von Bora. Es lässt sich deswegen auch damit spielen, wie in dem oben erwähnten Fernsehfilm, ohne Kritik hervorzurufen.
Besonders laut wird der Ruf nach »Angemessenheit« zudem bei Filmen zur deutschen Zeitgeschichte, jenen Abschnitten der Geschichte also, die zumindest teilweise noch im kommunikativen Gedächtnis von Produzierenden und Rezipierenden präsent sind. Dabei lässt sich, drittens, feststellen, dass dabei hauptsächlich Darstellungen von politischer Ereignisgeschichte im Zentrum öffentlicher Kritik stehen, weniger verfilmte Alltags- oder Geschlechtergeschichte. In den Rezensionen zur erfolgreichen Mini-Serie Ku’damm 56 (BRD 2016, Sven Bohse) kam jedenfalls nicht die Frage auf, ob ein Melodrama mit Motiven des Tanz- und Coming-of-Age-Films eigentlich die »adäquate Form« für eine Erzählung über die unterdrückte Sexualität von Frauen und homosexuellen Männern in der Bundesrepublik der 1950er-Jahre sei (vgl. z.B. Hupertz 2016; Buß 2016). Die Besprechungen der Tatort-Folge Der rote Schatten hingegen waren bestimmt von der Frage nach den Deutungspotenzialen und den Gefahren, die Geschichte der RAF als »Verschwörungsthriller« zu rekapitulieren (vgl. Baum 2017; Gertz 2017; Jungen 2017). Welche Faktoren auf der Ebene der Filmästhetik und des gesellschaftspolitischen Diskurses hier zusammenspielen, wäre also genauer zu untersuchen.
Filmografie
Barry Lyndon, Stanley Kubrick, GB/USA 1975.
Batman & Robin, Joel Schumacher, USA 1997.
Batman Begins, Christopher Nolan, USA 2005.
Ben Hur, William Wyler, USA 1959.
Cleopatra, J. Gordon Edwards, USA 1917.
Cleopatra, Joseph L. Mankiewicz, USA 1963.
Das Dritte Reich, Heinz Huber/ Arthur Müller/ Gerd Ruge, 14 Folgen, BRD 1960/61.
Das Wunder von Bern, Sönke Wortmann, D 2003.
Der Baader Meinhof Komplex, Uli Edel, D 2008.
Der Film von der Königin Luise, Franz Porten, 3 Teile, D 1912/13.
Der rote Schatten (ARD-Tatort), Dominik Graf, D 2017.
Deutschland im Herbst, Rainer Werner Fassbinder, BRD 1978.
Die Königin Luise in 50 Bildern für Jung und Alt, Paul Kittel, D 1896.
Die Wanderhure, Hansjörg Thurn, D/A 2010.
Die zehn Gebote, Cecil B. DeMille, USA 1956 (engl. The Ten Commandments).
Exodus – Götter und Könige, Ridley Scott, USA 2014 (engl. Exodus: Gods and Kings).
Fahrraddiebe, Vittorio de Sica, I 1948 (ital. Ladri di biciclette).
Game of Thrones, David Benioff/ D.B. Weiss, 73 Folgen, USA 2011-2019.
Gilda, Charles Vidor, USA 1946.
Gladiator, Ridley Scott, USA 2000.
Katharina Luther, Julia von Heinz, D 2017.
Ku’damm 56, Sven Bohse, 3 Folgen, D 2016.
Mauern, Egon Monk, BRD 1963.
Nacht und Nebel, Alain Resnais, F 1956 (franz. Nuit et brouillard).
Nackt unter Wölfen, Philipp Kadelbach, D 2015.
Quo Vadis, Mervyn LeRoy, USA 1951.
Planet der Affen: Prevolution, Rupert Wyatt, USA 2011 (engl. Rise of the Planet of the Apes).
Star Trek, J.J. Abrams, USA 2009.
Stranger Things, Matt Duffer/ Ross Duffer, 25 Folgen, USA 2016-.
Tadellöser & Wolff, Eberhard Fechner, 2 Teile, BRD 1975.
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